Plastik im Außenraum

Bis jetzt
(Herrenhäuser Gärten 1990)

Häufig ward Hannover nicht eben genannt, wurde in den letzten Jahren nach den bundesdeutschen Metropolen zeitgenössischer Kunst gefragt. Doch nun hat es den Anschein, als sollte sich das ändern. Das Sprengel-Museum bekommt einen Neubau, mit dem die Ausstellungsfläche verdoppelt wird; was den vom Wiener Museum Moderner Kunst/Palais Liechtenstein kommenden neuen Direktor Dieter Ronte sicherlich zu interessanten Aktivitäten animieren wird. Der Kunstverein erwacht mit seinem jüngst ins Amt gekommenen Leiter Eckhard Schneider offensichtlich aus seinem Dornröschenschlaf: Mit der gegenwärtig stattfindenden Gerhard-Merz-Ausstellung scheint eine diskursivere Richtung angezeigt. Dies alles und die Tatsache, daß Hannover im Jahr 2000 Veranstalterin der Weltausstellung sein wird, dürfte so manchen Leine-Anrainer wie etwa die Galeristin Marika Marghescu aufs Experimentierfeld führen. Schlagzeilen wie «Kunst im Aufwind» in der Wochenzeitung Die Zeit belegen, daß in der niedersächsischen Landeshauptstadt nicht nur politisch ein frischer, erneuernder Geist weht.

Doch primär galt besagte Schlagzeile einer Ausstellung, die zumindest zwischenzeitlich Hannover tatsächlich zur Metropole macht. Bis jetzt heißt das Objekt der erhöhten, auch internationalen Aufmerksamkeit, einer Bestandsaufnahme mit dem Untertitel Plastik im Außenraum der Bundesrepublik, einer Retrospektive also jener künstlerischen Disziplin, die wie keine andere hierzulande diskutiert (mehr dazu in Kunst im Außenraum) und allzu oft mit handgreiflichen ‹Argumenten› bedacht wurde — und wird, wie die Ausschreitungen gegen die hannoverschen Exponate einmal mehr belegen.

Bereits im Planungsvorfeld zur Ausstellung schlugen, mehr oder minder von Sachverstand bewegt, die Wogen hoch. Hier der enttäuschte Künstler, die resignierte Künstlerin, die erfahren hatten, nicht mit von der Partie zu sein. Und dort die Verfechter jener umstrittenen These, eine für einen bestimmten Standort geschaffene Plastik in einem anderen Umfeld zu zeigen, heiße, sie ihrem Kontext, ihrer sozialen Funktion zu berauben.

Erstere haben dabei möglicherweise übersehen, daß die Ausstellungsreihe in den nächsten Jahren fortgesetzt werden wird unter Berücksichtigung auch jüngster Entwicklungen der Plastik im öffentlichen Raum.

Und unter den Vorab-Kritikern des im Wortsinn groß angelegten Rückblicks auf 40 Jahre Außenplastik befinden sich, überraschend oder nicht, sehr viele, die eine ursprünglich für eine Kirche geschaffene Skulptur im Museum bewundern.

Einige der 35 im Georgengarten des hannoverschen Stadtteils Herrenhausen aufgestellten Plastiken reklamieren nachgerade ihre Eigenständigkeit, werfen nicht, wie vielfach geäußert, die Frage nach dem Ursprungsort auf. Ernst Hermanns Stahlarbeit Ohne Titel aus dem Jahr 1985 etwa oder Reiner Ruthenbecks Sieben schwarze Schranken von 1977 behaupten sich in ihrem solitären Charakter im Grün des Georgengartens, wie sie sich zuvor in urbaner Umgebung behauptet haben. Hans Uhlmanns Mahnmal zum Gedächtnis des Widerstandes im Dritten Reich aus dem Jahr 1950 verifiziert geradezu die Äußerung von Dieter Honisch, es sei oft gar nicht nötig, «daß Kunstwerke für bestimmte Situationen geschaffen werden». Wichtig seien «die Setzung, der Ort und die neue Beziehung, die zwischen Plastik, Gebäude und Umraum entsteht, die aus Trivialität etwas Signifikantes, geistig Gefaßtes und Urbanes machen». In diesem Zusammenhang geriert sich Ansgar Nierhoffs 1971 entstandene Schranke geradezu aktualisierend in der Frage nach der Dialogfähigkeit zwischen ‹heroisch› thronender Kunst und ‹trivial› scheinender Natur. Und es ist nicht ohne Faszination, zu sehen, wie gerade in einer neuen Umgebung Qualität sich selbst unter Beweis stellt. Als Beispiel dafür mag das Teilstück der documenta-Arbeit gelten, die Paul Isenrath 1977 für die Kasseler Schau gemacht hat.

Das ist der eine Aspekt dieser Ausstellung: quasi als Flaneur im Georgengarten aus anderen Perspektiven alte Arbeiten neu zu sehen, etwa in dem Sinne, wie Henry Moore sich zu den Skulpturen von Giovanni Pisano geäußert hat: «Nachdem seine Skulpturen vom Baptisterium in Pisa heruntergeholt und ins Museum gebracht worden waren, konnte man sie von Mann zu Mann sehen. So sollte Plastik gesehen werden und nicht als weit entfernte Gegenstände.» Von besonderer Bedeutung ist jedoch der Ansatz, der den Rückblick auf die Entwicklung einer von Ausstellungsorganisator Lothar Romain expressis verbis benannten «bundesrepublikanischen Plastik» zuläßt. Diese Bezeichnung beinhaltet die Auslassung jedweder figurativer Äußerung, denn, so Romain im (der Ausstellung qualitativ adäquaten) Katalog: «Das Thema Figur im traditionellen Sinne bleibt hier vor allem deshalb ausgespart, weil die Entwicklungen von Kunst im Außenraum [...] in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts immer weiter davon fortführen. Der Sonderweg in der DDR, der dieses Thema weiterhin künstlerisch und zugleich ideologisch einzukreisen versuchte, hat doch nicht weiter geführt, es sei denn zu der Erkenntnis, daß der Boden zu fest getreten ist, um noch fruchtbar zu sein. Deshalb sprechen wir hier auch nicht von deutscher, sondern von bundesrepublikanischer Plastik.» Romain zitiert in seinem Konzeptionsansatz «die Frage nach einer neuen Identität, nach neuen Ansichten vom Menschen» in der Zeit nach dem Ende des Nationalsozialismus, «als die pathetischen Versionen des athletischen Ariers von den Bomben endgültig zertrümmert waren». Es war aber auch die Suche der Künstler, wieder international Anschloß zu finden, die Lücke ausfüllen zu dürfen, die der nationalsozialistische Kunst-‹Verstand› hinterlassen hatte. Und manch ein Künstler setzte dort (wieder) an, wo die Nationalsozialisten die Kunst ins Reich des Bösen verwiesen hatten: an der Utopie des Konkreten.

Deshalb wohl setzte Romain die Uhlmannsche Arbeit von 1950 als gleichsam doppeltes Frontispiz ein, indem er die Plastik sowohl an den Eingang des Georgengartens stellen als auch auf den Katalogumschlag drucken ließ: Uhlmann war es, der, so Romain, «wie kein anderer bei uns die Änderung der formalen Mittel vorangetrieben hat».

Doch die hannoversche Bestandsaufnahme dokumentiert nicht nur den rein konstruktivistischen, den puren mathematisch-geometrischen Aspekt in der Entwicklung der Plastik seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Auch die organoiden Dialekte kommen zum Tragen, etwa in Otto Herbert Hajeks Blätterwald aus dem Jahr 1960 oder mit der Plastik Phönix II, die Bernhard Heiliger 1966 schuf. Und die kunsthistorische Bedeutsamkeit dieser von der Stiftung Niedersachsen, dem Sprengel-Museum Hannover und der Unternehmer-Initiative Niedersachsen getragenen Veranstaltung wird darin deutlich, als sie sich nicht auf den reinen Rückblick auf die Nachkriegszeit konzentriert, sondern auch die Wandlungen aufzeigt. Es bedürfte einer weiten, langen und anstrengenden Reise, zu sehen, wie sich bei einzelnen Künstlern Materialwahl, Arbeits- und Vorgehensweise geändert haben, so beispielsweise bei dem (bereits erwähnten) Ansgar Nierhoff oder bei Heinz Mack; oder aber, bei welchem Künstler die Konstanz in Material- und Formwahl überwiegt. (Dabei ist für denjenigen, der Handlungen, Wandlungen und Konstanten der Künstler nicht oder noch nicht kennt, der Katalog ein wertvolles Kompendium, ist ihm doch eine Dokumentation angefügt, die die Entwicklungen der einzelnen Plastiker photographisch festhält und sie persönlich zu Wort kommen läßt.)

Es fehlen in dieser «Materialsammlung», wie Lothar Romain diese Bilanz von vier Jahrzehnten Plastik im Außenraum der Bundesrepublik nennt, auch nicht solche jüngeren, den Plastikbegriff umformulierenden Künstler wie Bogomir Ecker, Ludger Gerdes, Norbert Radermacher oder Thomas Virnich, wobei Heinrich Brummack am ehesten für die schrilleren Ausformulierungen der achtziger Jahre steht. Norbert Kricke ruft sich in Erinnerung, Klaus Rinke belegt seine immer überraschende Vielfältigkeit, Inge Mahn reflektiert die poetische Variante der Plastik: 35 Künstler, 35 Arbeiten, 35 «Konfrontationen, Rückblicke und Ausblicke», wie Lothar Romain im Katalogaufsatz schreibt.

Einen weiten Schritt nach vorn tat Romain, indem er einen Künstler in diese Ausstellung integrierte, dem «noch kein anderer Ort zugewiesen werden kann». Es handelt sich um Lun Tuchnowski, dessen Hommage à R. J. (gemeint ist Robert Jacobsen, der große dänische Bildhauer, mit dem Tuchnowski lange zusammengearbeitet hat) Bis jetzt in zweifacher Hinsicht belegt: hier die Ehrung eines Plastikers der internationalen Tradition und dort der Blick in die Zukunft.

Der wird im nächsten Jahr in Hannover ausnahmslos von den jüngeren Künstlern getan werden. An verschiedenen Standorten, diesmal im innerstädtischen Bereich, sollen zehn Plastiker ihr Verständnis einer Kunst im öffentlichen Raum der neunziger Jahre aufzeigen. Dabei soll es weniger um die Plastik im klassischen Sinn gehen, sondern wider den Stachel der gesellschaftlichen Bedeutungsfunktionen gelöckt, soll nach- und hinterfragt werden, inwieweit die Plastik eine soziale Funktion erfüllen kann. Also nicht Von hier aus, auch nicht Bis jetzt, sondern Wohin?


Weltkunst, 60. Jg., Nr. 17, 1. September 1990, S. 2602 f.
 
Di, 20.10.2009 |  link | (2639) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Bildende Kunst



Balance

Planung und Zufall, Mensch und Gleichgewicht

Man wähnt sich in einer (Trick-)Ausstattung für einen jener Filme, die es als Reaktion auf das Zeitalter der Neutronenbombe gab und sicherlich zuhauf noch geben wird: Rudimente einer ökonomisch bestimmten funktionalistischen Architektur, Skelette einstig intakter Geometrie, die nur noch die Vermutung zulassen, in ihrem Inneren müsse sich früher Leben befunden haben. Da kokelt nichts mehr, alles ist apokalyptisches Tabula rasa. Und tatsächlich: die rechteckigen Kästen mit ihren angefressenen, zerstörten Kuben haben exakt die Maße der Behältnisse, in denen Urnen aufbewahrt werden.

Eine eher literarische Betrachtungsweise der 1986 entstandenen mehrteiligen Skulptur von Elisabeth Heindl liegt nahe, ein im Narrativen wurzelndes Bild drängt sich angesichts des Sujets nachgerade auf. Und doch ist das nicht Elisabeth Heindls primäre Intention. Es ist allenfalls eine vorweggenommene Interpretation, quasi in Umkehrung des künstlerischen Prozesses. Denn am Anfang steht bei ihr das Material, also dessen Auswahl, Bearbeitung und kompositionelle Anordnung. Das Thema von Elisabeth Heindl ist nicht die kommentierende Vergegenständlichung des Unausweichlichen oder gar, wie das in der Kunst der letzten Zeit gang und gäbe ist, des Unaussprechlichen. Ihr Thema ist der Versuch, in der Auswahl, der Kombination und der experimentellen Verarbeitung der Materialien zu einem vorgedachten Ergebnis zu kommen, ohne dabei jedoch Unwägbarkeiten von vornherein ausschließen zu wollen. Augenfällig wird dieses procedere anhand ihrer Zeichnungen: erst faltet sie das Pergamentblatt systematisch, bevor sie den Kohlestift, die Pastellkreide darauf so lange ‹tanzen› läßt, bis die Farbe wieder abblättert, das Blatt Schrundungen bekommt und so eine Textur entsteht, die den Zufall in die Planung integriert.

Es kommt dabei nicht von ungefähr, daß Begriffe wie ‹Tanz‹ und ‹Choreographie› elementarer Bestandteil der Arbeit von Elisabeth Heindl sind, gehören doch Tanz und dessen Kompositionstechnik sowie das Bühnenbild zu ihrer Ausbildung. Deutlich wird das an der Skulpturengruppe aus sogenanntem Rippenstreckmetall, einem Baumaterial, bearbeitet mit Pigmenten, mit Kalk versetztem Gelb und Schwefelstaub. Hier gerät eine auch in ihrer Fragilität vorausberechnete Statik über die Anordnungskomposition in tänzerische Gruppenbewequng, verweist aber zugleich konzentriert auf das physikalische Gleichgewichtsproblem und auf den Menschen, dieses «Schilfrohr im Wind», wie Blaise Pascal uns im 17. Jahrhundert genannt hat.


Katalogblatt zur Ausstellung in der Produzentengalerie München 1987

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Verhältnis der Dinge, der Elemente und der Bewegung

Es sind spezifische, ‹art›-verwandte Komponenten, die Elisabeth Heindls plastische Arbeit prägen. Unter anderem hat sie Tanz studiert, sie weiß um die Struktur der Komposition, kennt das Problem und die Balance. Die Ausbildung im Bereich Bühnenbild hat sie den Umgang mit dem Raum gelehrt, die der Bildhauerei hat dazu beigetragen, nicht ein ‹Gesamtkunstwerk› schaffen zu wollen, sondern ein Kunstwerk, das sich auf den gesamten Raum, auf das geistige Umfeld bezieht. Und was sie nicht studiert hat, das hat sie immer interessiert, zuvorderst der Mensch, als Individium, aber auch als Einzelwesen das in dem ‹durchrassten› 0rdnungssystem Erde mit dem anderen gut auskommen möchte bzw. möge. Folglich sind die Künste ihr kein Babylon, einige Sprachen spricht sie (für ihre jungen Jahre erstaunlich) perfekt, in anderen weiß sie sich gut zu verständigen. Jede der Arbeiten von Elisabeth Heindl vereint in sich die Essenz des nach wie vor aktuellen, im 17. Jahrhundert formulierten Diktums von Blaise Pascal «...die Entscheidung ist was zum Gefühl gehört, wie die Wissenschaften zum Verstand gehören. Der Feinsinn hat Anteil an der Entscheidung, die Geometrie an der Vernunft.» Will heißen, in paraphrasierter Form, Elisabeth Heindl hat sich nicht für eine Synthese aus Gefühl und Vernunft entschieden, sondern für das Ganze, also für das, dem das Künstlerische immanent ist.

Es sind die proportionalen Verhältnisse der Dinge, der Elemente und der Bewegung zueinander, die sie beschäftigen, sie befindet sich also in einer jahrhundertealten Tradition. Dabei erlaubt sie sich den ‹freien›, den künstlerischen Umgang mit den Dingen nur dort, wo die Gesetzmäßigkeiten es zulassen.

Die extrem kopflastige Plastik mit ihrem zwar am obersten Punkt angeordneten, aber letztlich im mathematisch bedingten Zentrum bedarf genauester Berechnung. Selbst die scheinbar unabhängig gestaltete Form auf dem Gipfel dieser stählernen Schilfrohre muß nach physikalischen Prinzipien erarbeitet werden. Der Künstlerin Freiheit mag jedoch auch die Freiheit des Betrachters sein, interpretatorisch festzustellen: Zeigt diese Plastik neben dem kompositorischen Spiel auf der Klaviatur der Physik und der Abstraktion des Figürlichen nicht auch eine zwitterhaft philosophisch/künstlerische Kritik an einer Gesellschaft, die sich dem schieren Wissen, also nirgendwo dem der Vernunft immanenten Denken verpflichtet hat und so auf mehr als wackeligen Füßen steht?

Wie auch immer, entscheidend bei der Betrachtungsweise hat immer die künstlerische Vorgehensweise zu sein, im konkreten Fall die ‹bildhauerische›: Der Bildhauer ‹nimmt ab›, der Plastiker ‹baut auf›. Fragestellung: das Kompositionelle von Material, dessen Beschaffenheit via Experiment bzw. Studium via Studie, dann die Antwort via Ausführung. Die An-Ordnung bedingt das Procedere.

Das betrifft nicht anders die zeltartigen Plastiken von Elisabeth Heindl, nachempfunden, genauer nach-gedacht menschlichen Behausungen in Apulien. Zum einen benötigen die aneinandergelöteten Bleibahnen ein Gerüst, da sie sonst auf Grund ihres spezifischen Gewichtes und ihrer leichten Verformbarkeit zusammensinken würden. Andererseits überläßt Elisabeth Heindl dem Zufall (als integralem Bestandteil eines Gefüges, innerhalb dessen dem Menschen etwas Unbekanntes zu-fällt) die bildhafte Struktur der Oberfläche, der Fassade — und kommt so zu einem in sich ruhenden, weil gefestigten Ansatz von Ornament; möglicherweise als Rückführung auf archaische Zeichnungen des Lebens und seiner Umstände als Vorläufer (sehr) viel später geschaffener Formulierungen von Ordnung.


Ausstellungskatalog Raumbilder. Bildräume, Elisabeth Heindl und Annekathrin Norrmann in der Galerie der KV Dachau, 19. Oktober bis 5. November 1989
 
Do, 15.10.2009 |  link | (1018) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Bildende Kunst



Weitermachen gegen das Aufhören

Über die Arbeit von Jochen Gerz



Einer der wichtigsten Beiträge von Jochen Gerz war 1979 auf der 37. Biennale in Venedig zu sehen, zu der Klaus Gallwitz neben Joseph Beuys und Reiner Ruthenbeck den damals 36jährigen eingeladen hatte: Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen. Der neun Meter hohe und sieben Meter lange Zentaur, eine Holzkonstruktion, war durch die Zwischenwand des Raumes geteilt. Der etwas größere Teil war unten mit einer Klappe versehen, durch die Gerz in den Raum, in dem er sich mehrere Tage aufhielt, gelangen konnte. Im größeren der beiden Säle standen sechs Pulte, versehen mit 48 karierten Papierbögen, beschrieben mit rotbrauner Abdeckfarbe in Spiegelschrift, Photographien und Zeichnungen.

Wie in anderen Griechischen Stücken macht Gerz die griechische Mythologie zum Ausgangspunkt seiner irritierenden, verwirrenden und die Wirklichkeit konterkarierenden Aktionen, Installationen und Performances. Er treibt die antike Sage jedoch nicht weiter als humanistisches Bildungsgut voran, sondern verweist auf den Apparat Kultur als etwas vom wirklichen Leben Trennendes. Der Zentaur von Jochen Gerz ist, so Karlheinz Nowald «natürlich der Kulturmensch, der Schwierigkeiten hat, von seiner Zivilisation loszukommen».1 Die Kunst ist in Gerz' Kritik dem Kontext des Er-Lebens entrissen und wird mumifiziert im Museum aufbewahrt.

Auf ein Museum besonderer Art wies Gerz 1974 mit seinem Exit/Dachau-Projekt hin. Gegenstand dieser Arbeit war das Museum des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Dabei ging es ihm nicht primär darum, auf demagogischer Ebene gegen diese schale Aufbereitung von Erinnerung an Völkermord zu polemisieren. Seine Kritik zielte auf die Verharmlosung durch das Abbilden, seine Zeichensetzung führte solche Erinnerungsarbeit ad absurdum.

«Wenn heute das der Bequemlichkeit dienende Museumsstichwort ‹Exit-Ausgang› an den Türen hängt», so Gottfried Knapp, «die einst direkt und unausweichlich in den Tod geführt haben, dann bekommt die unbedachte, durch Diskrepanz verzerrte Analogie der Verweisungssysteme eine makabre Dimension.»2 Lapidar fügte Gerz museums- bzw. sicherheitstechnische Begriffe wie Fortsetzung, Rauchen verboten oder Es wird gebeten, die Ausstellungsstücke nicht zu beschädigen zu einer fatalen konkreten Poesie zusammen und erweiterte sie über das Bild: In einem fensterlosen, inszenierten Raum bedrückt Dämmerung. Auf aus grob bearbeitetem Holz gezimmerte, auf Ordnung verweisende, streng ausgerichtete Tische und Stühle fällt, aus nackten Glühlampen, fahles Licht. Über Lautsprecher ist das Stöhnen eines Mannes zu hören, Schreibmaschinengeklapper symbolisiert die Dokumentation des Schreckens. Die Stühle sind zur Wand hin ausgerichtet, auf den Tischen liegt je ein Fotoalbum — festgeschraubt. In den Alben befinden sich Photographien, solche, die das Leiden der KZ-lnsassen festhalten, und andere, die die Teilnahmslosigkeit des Umgangs mit diesem ‹Kulturabschnitt› fixieren: KZ-Verordnungen, Museums-Verordnungen, Regeln, Verbote, Warnungen und Zeichen, die dem reibungslosen Kanalisieren von Besucherströmen dienen. Gerz zwingt den Besucher seines ‹Museums›, über die Parallelität der Begriffe nachzudenken. «Ausgetriebenes Leben», schreibt Georges Schlocker, «wird im Abbild dem Besucher zum Gedenken vorgesetzt, weil seine Sprache ohne Einfluß auf die Gegenwart zum undeutbaren Zeichen entartete.»3 Doch Gerz' Zeichen-Lehre kommt nicht einer Spuren-Suche gleich, wie seine Arbeit häufig gedeutet wird. Seine Archäologie ist ein Ausgraben verschütteter Erkenntnis. In der Kombination Raum, Bild und Text, unter Verzicht auf didaktische Einweisung und unter Zuhilfenahme tautologischer Täuschung formuliert er sein Credo: zeigen, daß unser Handeln, vor allem aber die Art, wie es dargestellt wird, «gar nichts mit unserem Leben zu tun hat, daß wir nicht eins damit sind».4 Er bewegt sich, «um einer fernen Vergangenheit gerecht zu werden», er will weitermachen gegen das Aufhören.

Ein anderes seiner Griechischen Stücke: Mit Hilfe eines Spiegels lenkt Gerz Sonnenlicht auf das Objektiv einer Video-Kamera, die in einer Entfernung von 50 Metern stehend ihn filmt. Durch die Überbelichtung wird nach und nach das aufgenommene Bild gelöscht. «Das Medium blenden mit Licht», schreibt Gerz zu dieser Performance mit dem Titel Prometheus.5 Oder auch: «P. im Stock von D. ist der Mann, der sich dagegen wehrt, abgebildet zu werden.»6 Er will nicht, daß man ein Bild von ihm macht. Möge man sich eines von sich selbst machen. Denn «es gibt nur ein echtes Bild», so Gerz, «und das sind wir selbst».

Wie abgelenkt wir sind vom Blick auf das Wesentliche durch die tagtäglich über uns schwappende Bilderflut der Medien, hat Gerz 1972 in Florenz eindrücklich dargestellt. Ausstellung von Jochen Gerz neben seiner photographischen Reproduktion nannte er diese Aktion, bei der er sich zwei Stunden lang neben eine an einer Hauswand klebenden Photographie von ihm stellte. Doch die vorbeiflanierenden Passanten betrachteten nicht etwa das ‹Original›. Das Abbild hatte es ihnen angetan. Während das Original sich — nicht nur durch Erschöpfung — ständig verändert, es also sich wandelndes Leben zu erkennen gäbe, verharrt des Betrachters Blick auf dem Status quo: er ist des (Mit-)Denkens, des (Mit-)Fühlens entledigt. Auf fatale Weise ist Gerz' Diktum «Mach dir kein Bild von mir» verifiziert. «Den Medien den Rücken kehren», hat Gerz in seinen tagebuchähnlichen Aufzeichnungen notiert, «man kann es nicht.»7

1979 installierte er im Rahmen der Veranstaltungsreihe Performances 79 in der Münchner Städtischen Galerie im Lenbachhaus zwei Videokameras bzw. -monitore und ein Gummiseil, das den Raum in zwei Hälften teilte. Das eine Ende des Seils war in der Wand verankert, das andere, für das Publikum nicht sichtbar, in Schlingenform um den Hals von Gerz gelegt. Zog jemand an dem Seil, zog sich die Schlinge zu. Auf den Monitoren war die jeweilige Wirkung zu sehen. In der Wiederholung von 1980 im Frankfurter Kunstverein war, so Amine Haase, «entweder das Erkennen verlangsamt, oder die Brutalität des seilziehenden Publikums war eiskalt: Gerz mußte die Aktion abbrechen».8

Der Mensch stranguliert einen anderen und denkt sich nichts dabei, weil die Reaktion des Strangulierten via ‹Television› ankommt. Darüber befragt, wie diese Performance von Gerz denn ihrer Meinung nach zu sehen sei, antwortete ein großer Teil des (Münchner) Publikums: Sinnbild des Leidens. Im Zusammenhang mit seiner inhaltlich ähnlich angelegten Performance Rufen bis zur Erschöpfung äußerte sich Gerz: «... man kann ja heute gar nicht von uns als dem Leiden reden. [...] Wir gucken uns ja jeden Tag 25 Tote an.» Es ist das allfällige, sich über die Medien wiederholende und über das entsprechend formulierte Wort sich zusätzlich potenzierende Bild, das uns von der Wahrheit ausgrenzt. Nicht dem Mythos vom Leiden will Gerz einen Sockel zimmern, er beschreibt Zustände. Darüber hinaus vermittelt ihm beispielsweise die Performance «das stärkste Hierseinsgefühl»: gegen das ständige Bedürfnis angehen, aufzuhören.

«Hundertprozentig», antwortet Gerz auf die Frage, wie weit seine Arbeit von der eigenen Biographie bestimmt sei. Kindheitserlebnisse, also aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, sind als «quasi Muränenstücke von diesem Erlebnis des Unterbrochenwerdens zur Umwelt drin». Seine Frage lautet: «Was kann mich orientieren, was kann mich zu einem Rhythmus bringen?» Bei seinen Bespiegelungen des Innen nimmt er die objektivierende Reflexion des Außen zu Hilfe. Vor allem die aus der Kindheit herausgewachsene Skepsis treibt ihn voran. In der Performance, einem Stück der Gerzschen Trilogie Gelebt — nicht gelebt, tritt er (auch) in den dramatischen Kampf mit sich selbst: mit der Zeit die Zeit und somit auch sich selbst überwinden. Vor allem die Hoffnung, dieses «schwammige» Dazwischen, möchte er dialektisch eliminieren, indem er über die Akte Bild und Text die Unwirklichkeit der Wirklichkeit postuliert. In jedem seiner Texte ist ein «leichter Zweifel am Bild enthalten», und jedes Bild ist auch eine «Gegenbewegung zum Text». Das Weiß zwischen den Wörtern von Stéphane Mallarmé könne «eine Richtungslosigkeit zwischen sich selbst produzieren».

«Kunst ist Propaganda für die Wirklichkeit und wird daher verboten», hat Oswald Wiener sinngemäß gesagt. Das könnte unter anderem als Motto für die Kunst von Jochen Gerz stehen: eine Trinität der Kunst gegen die Kultur. Die von jedermann benutzbaren Medien Bild, Text und Handeln einsetzen gegen den hochkulturellen Versuch, das Leben von der Kunst abzutrennen, es in die Lade ‹Freizeitbewältigung› abzulegen.

Friedrich Hebbel verlangte in seinen Dramen den Untergang des Helden als Bedingung, um zu einer neuen Geschichtsepoche zu gelangen. Auf ihn beruft sich Karlheinz Nowald in seiner Beschreibung der Gerzschen Installation Outis! Das Studium der Kunst und ihrer Geschichte hat unsere Freunde, die Doktoren, der Muse nicht nahe gebracht: «Die Welt will nicht Heil, sie will einen Heiland: das Vermitteln ist ihr sonderbarstes Bedürfnis.»9 Nowald geht auf die «Blendung des Riesen als Akt der Befreiung von Be- und Überwachung» ein, verweist auf die «Blendung des Betrachters auf dem Podest durch die Scheinwerfer» bzw. die «zarte Andeutung, daß das Kunstwerk so etwas Ähnliches mache: daß es nicht nur Augen öffne, sondern sie auch blind und stumpf werden lasse in dieser Anspielung auf Erblindung durch Kunst, eine Spitze gegen die Kultur und den Kulturbetrieb«.10 In der Gerzschen Falle: «Man entdeckt sich plötzlich als Mitspieler in einem System, in dem man sich verständnisvoll und trotzdem distanziert als Betrachter eins fühlt mit Outis, Odysseus, mit Jochen Gerz, mit dem Künstler überhaupt. Die Sehversuche wurden unternommen mit Hilfe der geschriebenen Wörter, die Krücken der Beschriftungen flößten soviel Vertrauen ein, daß man von diesen Hilfen schnell in die Irre geführt wurde, gerade weil man so höllisch aufpaßte, daß man nichts verpaßte.»11 Jochen Gerz gibt in seinem Kunst-Leben-Spiel jedem seiner Rezipienten eine Rolle, «die Rolle dessen, der aus der Rezeptur, aus den Ingredienzien dieses Stucks etwas zu machen hat, das nicht vorab bekannt ist, das nicht als Vorab-lnterpretation mitgeliefert wird. Man war gekommen, etwas zu sehen, und nun hat man das Gefühl, man sei selbst ausgestellt».12

«Dies durchlesend», beendet Georg Jappe seine Besprechung von Gerz' Das zweite Buch — Die Zeit der Beschreibung, «stelle ich fest, daß es mir vermutlich nicht gelungen ist, Jochen Gerz näherzubringen.» Und ‹listig› schließt er: «Was ihm auch nicht entspräche.»13 Ähnlich erging es Ulrich Raschke bei der Rezension des ersten Gerzschen (Druck-)Werkes Annoncenteil — Arbeiten auf/mit Papier, erschienen 1971: «Beim Überlesen des vorangegangenen Absatzes: Das stimmt ja gar nicht, das hat mit Gerz überhaupt nichts zu tun. [...] Die Gewöhnung an Dinge, die eigene Erfahrung spielen einem einen Streich, man ist auf Kammerton a eingestimmt, und dabei bleibt es.»14 Zwei Beispiele nur, die repräsentativ sind für die Verwirrung, die Irritation, die Jochen Gerz seit seinem ersten Auftreten als Künstler Ende der sechziger Jahre ausgelöst hat und weiterhin auslöst. «Künstler», so Georg Jappe, «halten Jochen Gerz gern für einen Literaten, sie vermissen Materialität und Form; Literaten halten Jochen Gerz gern für einen Künstler, sie vermissen Inhalt, Ordnungskategorien, Stil.»15

Tatsächlich kam der 1940 in Berlin geborene Gerz von der Literatur zur Kunst, von der geschriebenen Sprache über die Ausdrucksform Bild zur Korrespondenz zwischen den Medien. Das, was Rudolf Krämer-Badoni in seinem apodiktischen Unwillen, die eben nicht am Kammerton a orientierte kulturelle Mitteilung zu verstehen, «mystifizierendes Geschwätz» nennt16, wurzelt in Gerz' Elternhaus. «Ein bißchen Druck von kleinbürgerlicher Familie» nennt er, was ihn an die Universität führte. «Junge, du wirst Doktor», sagte der Vater zum Sohn, «was für ein Doktor ist wurscht, und wenn du es hier nicht schaffst, gehst du halt nach Graz.»17 Er blieb, zunächst, in der Nähe seiner ‹Heimat›-Stadt Düsseldorf. In Köln studierte er Germanistik, Anglistik, Sinologie, später dann noch, in Basel, Archäologie und Ur-Geschichte. Geliebt hat er das Studium (an der Universität) nie, «aber ich habe dort sehr gute Leute kennengelernt». Es waren «die einzelnen Individuen», die die jeweiligen Studiengänge bestimmt hatten: «Wenn ich Archäologie studiert habe, dann nur deshalb, weil das der einzige Mensch war, der mir interessant vorkam, wenn ich Sinologie studiert habe, dann, um irgendeinem Menschen seine Kartothek zu machen, der gerade dabei war, den Tao te King zu übersetzen.« Schon damals schien sich eine Entwicklung anzubahnen, die gegen die reine Faktenanhäufung gerichtet war und die 1982 in dem Postulat gipfeln sollte: Es ist kein Geheimnis: Euer Wissen wird euch töten. Es kam zu keinem Studienabschluß.

Geblieben ist Gerz die Sprache. Allerdings wurden ihm in den philologischen Hörsälen Zweifel an der Sprache injiziert, noch potenziert durch ihre Entwicklung als ‹modernes› Mittel zur Kommunikation. Die Nürnberger Prozesse nennt er als Beispiele dafür, «was man mit Sprache anrichten kann», wie «man mit Sprache lügen kann». Ein «Auslaufen der Literatur als Avantgarde» hat bewirkt, daß die Literatur der Nachkriegszeit für ihn «nie interessant gewesen» ist. Seine Literatur war und ist beispielsweise die der Engländer oder der Amerikaner: Ezra Pound, James Joyce, Malcolm Lowry oder des Italieners Italo Svevo.

Mit seiner ‹visuellen Poesie› der ausgehenden sechziger Jahre wuchs in ihm die Erkenntnis vom Versagen des Instruments Sprache zum Zweck der Mitteilung. Wie sehr ihm, dem Literatur-Künstler an einer Sprache gelegen ist, die nicht, wie heute obligatorisch, verhüllt, sondern enthüllt, belegen nahezu alle seine Bücher. Gerz' Sprache ist die des reflexiven Akts, des ‹Sich-Gehen-Lassens› auf der einen Seite, aber auch «immer unterworfen einem Dienst», eine ‹für das Tun›: «Unsere Sprache ist eng an die Entwicklung des westlichen Denkens und der Philosophie seit Aristoteles gebunden. Sie entspricht dieser Tradition insofern, als sie ein Mittel der Introversion von Widersprüchen der Außenwelt ist, anders gesagt, als sie die Ansprüche der Außenwelt dem Individuum gegenüber vertritt. Sie entspricht dieser Tradition auch insofern, als sie die Außenwelt zum Reflex ihrer selbst macht. Das bedeutet, daß die Außenwelt so ist, wie sie ‹gesagt› wird. Indem sie die Außenwelt durch die Interpretation, die sie von ihr gibt, ersetzt und den Anspruch ihrer Interpretation dem Individuum gegenüber manifestiert, sichert unsere Sprache mechanisch die Herrschaft der Repräsentation über das Leben.»18 Gerz hat sich vom ‹Nur-Schreiben› abgewandt.

Sein (in allen Belangen gültiges) Paradoxon: Er benutzt die immaterielle, ergo ‹gesagte› Sprache als Material — Wörter als Träger. Damit nimmt er Abschied von der Literatur im klassischen Sinn, zumal er immer bemüht ist, sich in den einzelnen Disziplinen seiner Arbeit vom orginären ‹Stil› fernzuhalten. Dennoch — «Alles in mir ist Widerspruch» — wird seine ‹dienende› Literatur auch als eine für sich stehende, quasi solitäre hoch eingeschätzt. «Das umfangreichste und reichste dieser Bücher», schreibt Petra Kipphoff, «(das parallel zum Venedig-Projekt entstandene Buch Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen ist Reflexion und Rechenschaftsbericht einerseits, eine Aphorismensammlung andererseits, die in der Verzweigtheit der filigranen Formulierungen in der zeitgenössischen Literatur nicht ihresgleichen hat.»19 Zweifelsohne fasziniert Gerz' philosophierendes Kreiseln, sein anamnetisches Beschreiben unserer Kultur: Keine Sehnsucht soll der Mensch haben, sondern tun. In der Natur beispielsweise sei die Natur etwas, nachdem man keine Sehnsucht habe.

Besagte achtundvierzig, auf den sechs Pulten befestigte Papierbögen der Installation Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen waren von Gerz in Spiegelschrift beschrieben worden. Auf sie, die in seiner Arbeit eine tragende Funktion hat, verweist er gern, einmal mehr autobiographisch, mit der lapidaren Aussage, er sei als Linkshänder geboren und habe sich, da es am Ende des Krieges keine Schulen gegeben habe, zunächst mit der linken Hand das Schreiben beigebracht. Genauer als diese leicht kokette, aber auch hintergründig ironisch auf spätere schulische Zwänge nach ‹rechts› verweisende Erklärung ist jene Deutung (zumal sie näher an den prozeßhaften Charakter der Gerzschen Arbeit kommt): Die Spiegelschrift ist die Station zwischen dem Ausgangsgedanken und der Realisation, also des Öffentlich-Machens; sie hat Manuskriptfunktion. Sie ist Träger des «Noch-nicht-Verantwortlichseins gegenüber dem Außen» und unterstützt darüber hinaus den «Charakter des Noch-nur-Verantwortlichseins gegenüber dem Innen». Im dann unverspiegelt gedruckten, also ‹nach außen› in das Verantwortlichsein gegebenen Text zum Zentaur steht über Odysseus-Outis, bei Gerz der «uneheliche Sohn des Akademikers», dem «Linkshänder»:

«Die rechte Hand wird wie ein Tanker in den Hafen gezogen von Lotsen. Die schwere starre Hand. Die bedrückend kalkige Hand. Die Gipshand, die Frustrierhand, die Hand an der Amtskette, weiß von Frustration, die Hand die schreiben kann, die aber von Anfang an nicht zum Schreiben begabt war. Nicht zum Schreiben, nicht zum Stricken, die fleißige Hand, die Schönschreibhand, die 5. Kolonnenhand, aber natürlich auch die Sublimierhand. [...] Auf der einen Seite die Frustrier- & Kulturhand, auf der anderen das Händchen.» Seine ‹Kritik› an der Rechten geht noch weiter. Sie ist «das indifferente Händchen», das «Listhändchen. [...] Am Schluß sogar wird es das kleine liebe Händchen, das listige und das liebe. Es ist aber immer das Kulturhändchen, der Bock, der zum Gärtner wurde».20 Und Gerz treibt die Linksschreibung noch einen Schritt weiter, indem er sie inhaltlich in das Zentaur-Thema flicht: «Das Pferd von Troja ist selbst eine Linksschreibung innerhalb der Rechtsschreibung von Troja. Doch im Pferd drinnen ist zur Rechtsschreibung des Pferds die Linksschreibung des Outis und seiner Leute.»21 Zwar hat Gerz hiermit die ‹Manuskriptfunktion› des Linksschreibens hinter sich gelassen, findet jedoch wieder zu sich, zu seinem ‹Alles-in-mir-ist-Widerspruch›, zum Text, der immer einem Dienst unterworfen zu sein hat: «Man kann mit der linken Hand schreiben, ohne auch gleichzeitig die Spiegelschrift lesen zu können. Wenn einer links schreibt, aber nicht links liest, kann er noch nicht einmal lesen, was er geschrieben hat. [...] Wenn man nicht lesen kann, muß man sich mehr auf das Gedächtnis verlassen. [...] Das, was man aufschreibt, wird nach und nach etwas von der Geilheit der Wörter verlieren, gelesen zu werden. (Denn das Geschriebene kann sich keine Hoffnung machen, so bald gelesen zu werden. In Wirklichkeit ist jedes Wort wohl zuerst darauf aus, gelesen zu werden und dann erst dem Zusammenhang zu dienen, in dem es steht.)»22 So dem Innen, dem Individuum Gerz zugeordnet, ihm dienend, ist die Linksschreibung also auch ‹schön›.

Es ist jedoch verständlich, daß sich bei solchen linksgedrehten Dichterspiralen wie den oben zitierten die Skepsis auf den Rezipienten überträgt. Leicht gerät Gerz in den Sog der Gefahr, doch wieder als ‹Nur-Literat› gedeutet zu werden, oder setzt sich dem Urteil aus, die ‹Linksschreibung› erweise sich «als kräftigster Ausdruck der Tendenz zu jener unerreichten Synthese von Schreiben und Nichtschreiben», wie Jürgen Hohmeyer bemerkte.23

Gerz bedient sich bei der Photographie/Text-Kombination keinerlei ‹ästhetischer› Gestaltung. Anordnung der Fotos und gleichermaßen korrespondierende wie aus dem ‹Ruder› laufende Texte gestatten dem Betrachter, sich eine Ästhetik der Aussage zu formulieren. Le grand amour nennt Gerz seinen zweiteiligen Zyklus, in dem Ideal und Wirklichkeit zusammengeführt sind und doch voneinander wegführen. Hier die grobkörnigen Portraits der sterbenden Mutter, dort die Bilder der ‹großen Lieben›. Die Hoffnungslosgkeit des herannahenden Todes steht der sehnsuchtsvollen Erinnerung im Wege. Die Wirklichkeit heißt Hoffnung, die Wahrheit Desillusion.

Beim Photographieren sucht Gerz keine Motive. Seine Photographie ist eine eher beiläufige. Er benutzt dieses Medium, wie andere es auch tun. Die Erinnerung hat sich im Kopf in Erleben zu verwandeln. «ln dieser elementar einfachen Form», schreibt Herbert Molderings, «widerspiegeln seine Photo/Texte den gegenwärtig erreichten Grad der Durchdringung des alltäglichen Lebens mit dessen endlos sich reproduzierenden Kopien«.24 Die 196 Photographien der Serie Das Rauchen sagen nichts aus über die Zeitfolge des Belichtens oder über die Empfindung des Photographen angesichts des Bildes.

Nichts als sinnentleerte Reihung von Abbildern. «Schon vom Einsatz der Mittel her», so Molderings weiter, «wird deutlich, daß es nicht darum gehen kann, dem bestehenden Reservoir an Reproduktionen der Welt wieder neue, wieder andere ästhetisch ausgewogene und symbolisch verdichtete Photos hinzuzufügen, sondern daß hier die Tätigkeit des Photographierens selbst und ihr Platz im alltäglichen kulturellen Verhalten (die ‹Verstrickung in seine eigene Beziehung zum Apparat›) zu denken geben.»25 Das Massenmedium Photographie ist nichts anderes mehr als eine Ritualisierung einer längst in der Vergangenheit liegenden Glücksseligkeit, auch als Nostalgie zu bezeichnen oder, wie Wolfgang Ruppert diese bezeichnet hat, «Verklärung der Erinnerung».26 Dem Betrachter des Bildes ist die Fähigkeit des Kindes abhanden gekommen, auf die Rückseite zu schauen und sich zu wundern, daß es da nichts zu sehen gibt.

Durchweg unklar ist dem Betrachter der Text/Photo-Kombinationen, welchen Bezug der Text zum Bild hat. Zumindest am Anfang. Die Sehgewohnheit verlangt vom Text eine zusätzliche Erläuterung des Gesehenen wie die Bildunterschrift der lllustrierten oder der Kommentar des Fernsehreporters. Doch dies verhindert den eigenen Gedanken dazu, der Bewußtseinsprozeß wird aufgehalten. Indem Gerz der Photographie ein ‹Sprachbild› gänzlich anderer Herkunft gegenüberstellt, zwingt er den Betrachter vom Ab-Bild weg und führt ihn (so er sich darauf einläßt) über den Weg des Bewußtseinsprozesses zu einem Bild, das mit den Inhalten des Nur-Gesehenen und Nur-Gelesenen dann nur noch scheinbar nichts mehr zu tun hat. Gerz will die Rückführung, die Besinnung auf das Wesentliche. Eines seiner Sinnbilder dafür ist Der Stein will zurück zur Schleuder: Der etwa ein Meter große Findling jeweils aus der Gegend des Ausstellungsortes) will dorthin zurück, von wo aus er abgefeuert wurde, in die handgroße Schleuder, zum Ursprung.

«Selbst wenn die Deutschen an ihrer Kunst hängen wie Goethe an seinem Griechenland», so Gerz, «hat das mit Klassik und Griechenland wenig zu tun, sondern mit dem Bild davon.»27 Er schreibt ‹falsch› und legt damit die Erwartungshaltung des Rezipienten bloß, mit den Griechischen Stücken oder Kulchor in eine wohlgefällige Interpretation klassisch-mythologischer Erzählungen tauchen zu können. Es ist auch eine Art dienender ‹Linksschreibung›, diese Falschschreibung des ‹Wahren, Schönen und Guten›, des Füllhorns ›Kulturübung‹.

Die Vortizisten der ersten beiden Dezennien unseres Jahrhunderts, jene englische Variante von Kubismus und Futurismus, haben dieses im Mißverstehen oder Nicht-verstanden-Habens wurzelnde Mischwort ‹Kulchur› geschaffen: «ein bißchen deutsch geschrieben, englisch ‹pronounciert› multination of culture, multinational». Ezra Pound, der wegen antiamerikanischer Propaganda im Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern verhaftete amerikanische Dichter, schrieb 1938 ein Pamphlet unter dem Titel Guide to Kulchur. Und La Monte Young brachte nach dem letzten Weltkrieg unter diesem Namen eine Zeitschrift heraus. Dieses «Esperanto aus Kultur, culture, cultura», so Gerz, hatte die Funktion, «das Wort Kultur falsch oder neu zu schreiben»28, also neu zu ‹denken›. Kulchur steht bei Gerz als Wort-Bild, als Synonym für seine bisweilen ironisierenden Kultur-Verdrehungen. Denn die Kultur, wie sie bei uns ‹praktiziert› wird, ist «Träger einer Ideologie, die uns an dem Apollinischen, der Harmonie, der Gestaltung mißt».29

Er schrecke immer wieder davor zurück, äußerte Gerz gegenüber dem Autor, die Kultur so total zu kritisieren, wie es ihm «eigentlich verantwortlich» erschiene. Denn das habe zur Folge, den Menschen kritisieren zu müssen. Aber — und das ist wohl dieses Künstlers Crux: «Ich habe immer im Triumph der Kultur eine Niederlage des Menschen gesehen. Trotzdem hat sich meine Meinung insofern geändert: Früher habe ich diese Niederlage gefürchtet, heute kann ich sie nur noch konstatieren.»30


Anmerkungen
1 Karlheinz Nowald, in: Griechische Stücke, Kulchor Pieces. Kat. Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen; Heidelberger Kunstverein 1984, S. 66
2 Gottfried Knapp, Peinliche, peinigende Doppeldeutigkeit, Süddeutsche Zeitung, 12.10.1977
3 Georges Schlocker, Ein Museum wird ausgestellt. Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 25.5.1975
4 So nicht anders angegeben, stammen die Zitate von Jochen Gerz aus Gesprächen mit dem Autor, hier überwiegend des am 4. Mai 1988, das unter dem Titel Ein Bild machen in den Kommentaren abgelegt ist.
5 Jochen Gerz, in: Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen. Kat. Kunstraum München 1976, S. 25
6 ebd., S. 26
7 ebd.
8 Amine Haase, Eine Kluft trennt das Leben von der Kunst, Kölner Stadtanzeiger, 9./10.2.1980
9 Karlheinz Nowald, a. a. O., S. 45
10 ebd., S. 49
11 ebd., S. 51
12 ebd.
13 Georg Jappe, Die Unsichtbarkeit des Wirklichen. Die Zeit, 5.8.1977
14 Ulrich Raschke, Einweg-Buch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.11.1971
15 Georg Jappe, a. a. O.
16 Rudolf Krämer-Badoni, Der Künstler als Lorelei. Die Welt, 5.2.1980
17 Die Universität des österreichischen Graz hatte lange Zeit den Ruf, an ihr könne man unter erheblich leichteren Bedingungen einen Doktorgrad erlangen, böse Zungen behaupteten: «Dissertation gleich Seminararbeit».
18 Jochen Gerz, Texte. Bielefeld 1985, S. 13
19 Petra Kipphoff, Trau keinem Bild. Die Zeit, 15.9.1978
10 Jochen Gerz, in: Die Schwierigkeit des Zentaurs ..., S. 139f.
21 ebd., S. 36
22 ebd., S. 30f.
23 Jürgen Hohmeyer, AIs wenn es gar nicht geschrieben wäre, in: Kat. J. G., Kestner-Gesellschaft, Hannover 1978, S. 17
24 Herbert Molderings, Foto/Texte von Jochen Gerz, in: J. G., Kestner-Gesellschaft, a. a. O., S. 18
25 ebd.
26 Wolfgang Ruppert (Hrsg.), Erinnerungsarbeit — Geschichte und demokratische Identität in Deutschland, Opladen 1982, S. 10
27 Jochen Gerz, in: Griechische Stücke, a. a. O., S. 111
28 ebd.
29 ebd.
30 Interview mit Jean Francois Chevrier, in: Galeries Magazine, Paris Juni/Juli 1989, o. S.


Der Autor ist Gründungsherausgeber von Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst (seit 1988), betreute bis 2006 verantwortlich dessen Redaktion und ist nun als Kunst- sowie Kulturpublizist tätig (Mitglied von aica, Internationaler Kunstkritikerverband). Er lebt in Hamburg und im südfranzösischen l'Estaque.



Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst
, Ausgabe 6.1989.

© Für den Text: Detlef Bluemler und Zeitverlag (ehemals WB-Verlag, München);
für die Abbildungen: © Jochen Gerz, vertreten durch die VG Bild-Kunst, Bonn

Weitere Abbildungen bzw. Informationen via Medienkunstnetz

 
So, 11.10.2009 |  link | (6706) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Bildende Kunst



Der Geist der Minerva

Zum Dachau-Zyklus von Romain Finke


Dachau-Zyklus 1987. Zehn Leinwände und verschiedene Studien auf Papier; weitere Abb. via Romain Finke

Angesichts des Todes habe man sich vor dem Pathos zu hüten, schrieb Albert Camus in seinem Mythos von Sisyphos. Dennoch hat es nach der Auflösung der Konzentrationslager durch die Alliierten in der künstlerischen Aufarbeitung des Holocaust' immer wieder ein Pathos gegeben, das die Grenzen zum Kitsch weit überschritt, Kitsch, von dem Saul Friedländer meint, er sei eine «heruntergekommene Form des Mythos», der aber noch immer «aus der Mythensubstanz einen Teil seiner emotionalen Durchschlagskraft» beziehe. Und etwas von dieser emotionalen Durchschlagskraft wohnt auch der bevorzugten Variante künstlerischer Bewältigung des nationalsozialistischen Massakers inne: dem Sozialistischen Realismus. Lieber keine Kunst als ihn, lautet Adornos Diktum, das fortzuschreiben ist angesichts der sehr westlich geprägten, postmodernen Spielart dieser Stilrichtung, die zu allem Über auch noch die Mythisierung der Konzentrationslager betreibt — davon abgesehen, daß dieser horror vacui Gefahr läuft, in eine unkritische Akzeptanz zurückzufallen.

Dem wollte Romain Finke entgegentreten, als er beschloß, über einen dieser Orte künstlerisch zu reflektieren, an dem Menschen wegen ihrer Abstammung, Gesinnung, Neigung oder Religionszugehörigkeit gefangengehalten und gequält wurden. Denn was er in dieser ‹Gedenkstätte› Dachau gesehen hat, ist nicht mittels plakativem Abbilden beschreibbar: Rätselhaftes, Unwirkliches, Unvorstellbares — eine amorphe Gewalt, die nicht einmal ansatzweise Figuration zuläßt.

Romain Finkes Sujets sind, zunächst einmal, die des Todes, auch der Tode, die jene KZ-Insassen gestorben sind, die die praktizierte Gaskammer-Ideologie überlebt haben. Seine Farb- und Formensprache leistet Erinnerungsarbeit, seine Abstraktionen bilden einen Sehhilfe-Fond, rütteln jene Apokalypse-Konsumtion durch, die Peter Weiss schon in den sechzigerer Jahren festgehalten hat, und die heute ausgeprägter denn je ist:

«Morgens treten wir, ohne uns dessen recht bewußt zu werden, fast regelmäßig, zum Ritual eines Totengedenkens an. Während wir unserem Körper die erste Tagesnahrung zuführen, nehmen wir die Zeitungsmeldungen auf, kauend, schlürfend erfahren wir von den Erschlagenen, Zerstückelten, Verbrannten, Zerquetschten und Ertrunkenen [...].» Und noch etwas muß Romain Finke zu seinen Kompositionen der Nachdenklichkeit bewogen haben, ausgedrückt in Brechts Zeilen: «Was sind das für Zeiten, wo/Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist/Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!»

Der Farben- und Materialienreichtum in den früheren Arbeiten von Romain Finke hätte leicht die Gefahr heraufbeschworen, des Betrachters Blick von den einstigen Geschehnissen im KZ Dachau abzulenken hin zu dieser Naturfarbigkeit, die die heutige ‹Gedenkstätte› Dachau ‹einfriedet›. Das mag ihn bewogen haben, nach einer Grundfarbe zu greifen, die, nach Adorno, sowohl radikale Kunst symbolisiert als auch «inhaltlich einer der tiefsten Impulse der Abstraktion» ist: Schwarz.

Doch dieses Schwarz konnte nicht aus der Retorte, es mußte für Finke aus dem Erdinnern, aus der Geschichtshülle Erde kommen. So bediente er sich des fossilen Schwarz Teer. Mit ihm kam er zum Stoff aufeinandergeschichteter Vergangenheit und damit weg von der sich aus dem historischen Prozeß verabschiedenden reinen Klage. Da war die Möglichkeit einer dialektischen Beziehung zwischen dem Leid und einer Hoffnung, die Novalis als Dichter der Romantik den utopistischen Denkern der Nachkriegsmoderne vorweggenommen hat: die Vorstellung von den Ruinen als Mütter blühender Kinder.

Andererseits ist dieses organische Schwarz des Teers aber auch die Farbe des von Federico Garcia Lorca gestalteten Dämons als Antipode der müden Muse, eines Dämons der sirenenhaften Eingebung, der die Statik auch des Formlosen unterläuft, der dem Gesetzessockel zumindest Risse zufügt.

Dieser Dämon mag Romain Finke veranlaßt haben, Teer und Wasser, zwei sich abstoßende Stoffe, dennoch zu verbinden: Teer und wasserlösliche Acrylfarben. Damit hat er das Chaos des Zufalls heraufbeschworen, das seinen Inhalt aus der Bedeutsamkeit des Fühlens bezieht, aber für sich nichts ist als ausgeworfene Regung, Erregung: Trauer, aber auch Wut — Farbfelder eines unsteuerbaren emotionalen Prozesses, der die Wurzel aus einer Unbekannten zieht.

Durch Innehalten und reflektierende Kontrolle hat Romain Finke den Zufall dann doch immer wieder aufgehalten, hat ihm das antipodische procedere der Untersuchung über Skizzen, Entwürfe, Materialprüfungen, des Verweilens im Lesen und Nachdenken, des Immer-wieder-Beginnens und Aufs-neue-Verwerfens vorgehalten. Kündigte sich da ein Staubkörnchen einen Sandsturm des Mythischen an, der dem vom unabänderlichen Schicksal Beseelten die Restratio vollends hätte verschütten können, so wischte Finkes Reflexivität es wieder weg. Schuf Gevatter Zufall eine Schrundung, in deren Versenkung die Anrufung des Gottgewollten hätte nisten können, so wurde sie geglättet von einer Vernunft, ohne die das Gefühl nicht auskommt. Die zehnjährige Haft des Vaters von Romain Finke wie die Millionen Geschundenen und Toten, aber auch die Alpträume der Überlebenden und Hinterbliebenen lassen auch nicht den Ansatz eines verklärenden, den ‹schönen› Künsten anhängenden Duktus zu.

Die kleinformatigen Dachau-Studien sind Romain Finkes vielfältige Fragestellungen, die am Anfang seiner Expedition in das von den Nazi' geschaffenen Totenreichs stehen. Sie sind von der Helligkeit des Noch-nicht-genau-Wissens bestimmt, ihre, auch farbliche, Fragilität wird genährt vom ungläubigen Staunen über die am Horizont sich abzeichnende Erkenntniswalze. Doch beim Umsetzen der Inhalte von den kleinen Formaten in die großen mußte zwangsläufig jeder Rest Zweifel an der Menschenverachtung den Ergebnissen künstlerischer Untersuchung weichen. Romain Finke hatte die (Bild-)Sprache, aus der er zu übersetzen hatte, qua Auseinandersetzung im Griff und konnte sich so eindeutig und vernehmlich ausdrücken:

Die gewaltigen Eruptionen aus fließendem, in den Orkus der Geschichte versinkendem und doch immer wieder aufgeworfenem Rot beschreiben nicht den Lavastrom mystischer Ergebenheit in die Gewalt des Schicksals, sie sind Strom der Verirrungen menschlichen Geistes und halten gegen die Todessehnsucht pervertierten Denkens. Die tief- und teerschwarze Angst im eingekerbten Rechteck ist nicht die wabernde Furcht vor dem Niedergang des Unaussprechlichen, es ist der traumatische Gedanke an den gleichgemachten und gleichschrittmarschierenden Mob, und die zunächst nach unten fahrende, sich trotz aller anfänglicher Aufhellung ‹endlich› ins Grab wünschende Hoffnung erfährt in der untersten Kurve eine Aufwärtsbewegung. Das Schleusentor schließt sich nicht, es öffnet sich, um das reinigende Gewitter einzulassen, es mag sich aber auch, etwa um 1933, schließen, um die Zirkulationen einer anderen Wirklichkeit auszusperren. Sicher, dieses verbrannte Gebälk war einst stützender Bestandteil einer Architektur des Fremdenhasses, man sieht ihm die Strukturen eines beinahe aus den Annalen der Weltgeschichte gestrichenen, nur durch die Religion sich definierenden Stammes an. Doch diese immer noch gewaltigen Balken kokeln, rauchen nach wie vor, und nur der immerfort daraufgerichtete Blick kann diesen Schwelbrand unter Kontrolle halten. Wie auch an den Rändern dieser organischen Deutungen von zwölf Jahren Dachau oder eines in zwölf oder bald fünfzig Jahren immer noch nicht untergegangenen Wartens auf das 1000jährige Reich keine ideologischen Verfestigungen entstehen, sondern die dem Humanitären zugetane Kunst des Romain Finke an ihnen frißt.

Es sei eingestanden, daß den Betrachter angesichts dieser mit Hoffnung angefüllten apokalyptischen, schweigend zum Darüber-Sprechen auffordernden Bilder Schluckbeschwerden überkommen, die von einem sich einstellenden Pathos herrühren. Doch Camus' existentialisches Diktum, man habe sich angesichts des Todes davor zu hüten, kann diese Art von Tod nicht gemeint haben. Solcher Tod muß Pathos evozieren, etwa dieses, das Romain Finke gemalt hat, und mit dem Ivo Frenzel einst Ernst Blochs Geist der Utopie charakterisierte: «daß die Eule der Minerva ihren Flug nicht bei einbrechender Dämmerung, sondern in der ersten Morgenröte beginnt, die einen Tag verheißt, der noch weit unter dem Horizont liegt».


Ausstellungskatalog Dachau-Zyklus, Städtische Galerie Schwäbisch Hall 1987
 
Di, 06.10.2009 |  link | (3485) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Bildende Kunst



Punk-Mode

Ein malender Geschichtenerzähler

Jeder irgend geartete Realismus ist etwas anderes als Realität. Schon Brecht verwies darauf, «daß weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist ins Funktionale gerutscht.» Aus dieser Erkenntnis zog der große Augsburger dann diesen Schluß: «Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich etwas aufzubauen, etwas Künstliches, Gestelltes.»

Harald-O. Schulz schafft mit seinen Bildern etwas Künstliches, er stellt etwas nach. Mit Hilfe seines Mediums Kunst hebt er die Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit auf. Ist das denn Wirklichkeit: all diese flirrenden Farben auf nachtschwarzem Grund, all diese seltsam anmutenden Formationen und Physiognomien? Oder ist das Illusion, sind das die Visionen eines schlecht sehenden Malers?

Anders gefragt: Wer gibt sich denn noch dieser Wirklichkeit hin, die ihm täglich ins Auge springt? Wer läßt diese Filme nächtlich illuminierter Großstadtstraßen in seinem Hirnkino nochmals ablaufen, um diese gewaltige, manchmal gewalttätige Sinnesreizung auf ihre Wirkung an sich selbst hin zu überprüfen? Wer also nimmt dieses Bild von diesem Punker-Pulk an der Straßenecke noch in sich auf, um es auf die Wirklichkeit hin abzuklopfen?

Punk ist längst zur Mode heruntergekommen. Jedes Billigkaufhaus verhilft dem tagsüber im flotten Zweireiher Agierenden zu einem äußeren Habitus, mit dessen Hilfe er zum (Feierabend-)Punker avancieren darf. Er illusioniert sich selbst, indem er die Wirklichkeit ignoriert. Denn Punk ist Wirklichkeit: eine Weltanschauung, eine Philosophie (nicht das, was die Werbeleute für sich in Anspruch nehmen). Punk ist ein (schon längst nicht mehr nur großstädtisches) Phänomen, eine Wirklichkeit, die nicht mehr wahrgenommen, genauer: nur noch konstatiert, jedoch nicht mehr reflektiert wird.

Diese Reflexion übernimmt der Künstler mit seinem gemalten Realismus. Er tritt an, die uns angeborene, jedoch verschüttete Intelligenz des reflexiven Sehens wieder zu beleben.

Nun wäre es völlig verfehlt, in Harald-O. Schulz einen malenden Prediger zu sehen, der mit seinen Bildern gegen ein gesellschaftliches Randgruppenproblem angehen will. Und genau so sehr liegt der daneben, der meint, hier glorifiziere ein Maler den Widerstand einer der tradierten bürgerlichen Werte überdrüssigen Gemeinschaft. Icke, wie Harald-O. Schulz seine Arbeiten signiert, erzählt einfach nur Geschichten — knappe einfache Geschichten: Eindrücke, die in uns Erinnerungen wachrufen.

Harald-O. Schulz wollte schon immer Geschichtenerzähler werden, schon seit seiner Schulzeit. Damals hat er noch aufgeschrieben, was durch seine Gehirnwindungen floß. Meist waren es metaphysische Themen; Über-Irdisches eben. Heute, im fünften Jahr seines Entschlusses, Geschichten nur noch malend erzählen zu wollen, hat die Darstellung des Irdischen Priorität erlangt.

Das Staunen aber, das den dreizehnjährigen Icke beim Anblick des Gemäldes Der Behälter des Weltalls des Wiener Phantastischen Surrealisten Ernst Fuchs überkam, sieht man seinen Arbeiten heute noch an. Da ist, zunächst einmal, jene Wirklichkeit, die er in Form der Photographie auf die Leinwand projiziert; es ist die, nach Brecht, ins Funktionale gerutschte Realität, die eine menschliche Beziehung nicht mehr herausgibt. Dann aber stellt er künstlerisch etwas Künstliches her, indem er sein Staunen darüber, wie unwirklich sich die Wirklichkeit so manches Mal geriert, mit Hilfe von Pinsel und (Acryl-)Farbe hinzufügt. Und so entsteht (der) Realismus (des Harald-O. Schulz): Dem Betrachter zeigt sich nicht, was ist, sondern wie es sein könnte, wie es gesehen wird.



Bluemler/Hübner: Punk. Angerer. Cube. Schulz. Deutsche und englische Ausgabe, Edition Lipp, München o. J. (1985), o. S.; ins Englische übertragen von Siegfried Wyler

Abbildung: (© Harald-O. Schulz): Two beauties, 1985

 
Fr, 25.09.2009 |  link | (1519) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Bildende Kunst









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