Balance

Planung und Zufall, Mensch und Gleichgewicht

Man wähnt sich in einer (Trick-)Ausstattung für einen jener Filme, die es als Reaktion auf das Zeitalter der Neutronenbombe gab und sicherlich zuhauf noch geben wird: Rudimente einer ökonomisch bestimmten funktionalistischen Architektur, Skelette einstig intakter Geometrie, die nur noch die Vermutung zulassen, in ihrem Inneren müsse sich früher Leben befunden haben. Da kokelt nichts mehr, alles ist apokalyptisches Tabula rasa. Und tatsächlich: die rechteckigen Kästen mit ihren angefressenen, zerstörten Kuben haben exakt die Maße der Behältnisse, in denen Urnen aufbewahrt werden.

Eine eher literarische Betrachtungsweise der 1986 entstandenen mehrteiligen Skulptur von Elisabeth Heindl liegt nahe, ein im Narrativen wurzelndes Bild drängt sich angesichts des Sujets nachgerade auf. Und doch ist das nicht Elisabeth Heindls primäre Intention. Es ist allenfalls eine vorweggenommene Interpretation, quasi in Umkehrung des künstlerischen Prozesses. Denn am Anfang steht bei ihr das Material, also dessen Auswahl, Bearbeitung und kompositionelle Anordnung. Das Thema von Elisabeth Heindl ist nicht die kommentierende Vergegenständlichung des Unausweichlichen oder gar, wie das in der Kunst der letzten Zeit gang und gäbe ist, des Unaussprechlichen. Ihr Thema ist der Versuch, in der Auswahl, der Kombination und der experimentellen Verarbeitung der Materialien zu einem vorgedachten Ergebnis zu kommen, ohne dabei jedoch Unwägbarkeiten von vornherein ausschließen zu wollen. Augenfällig wird dieses procedere anhand ihrer Zeichnungen: erst faltet sie das Pergamentblatt systematisch, bevor sie den Kohlestift, die Pastellkreide darauf so lange ‹tanzen› läßt, bis die Farbe wieder abblättert, das Blatt Schrundungen bekommt und so eine Textur entsteht, die den Zufall in die Planung integriert.

Es kommt dabei nicht von ungefähr, daß Begriffe wie ‹Tanz‹ und ‹Choreographie› elementarer Bestandteil der Arbeit von Elisabeth Heindl sind, gehören doch Tanz und dessen Kompositionstechnik sowie das Bühnenbild zu ihrer Ausbildung. Deutlich wird das an der Skulpturengruppe aus sogenanntem Rippenstreckmetall, einem Baumaterial, bearbeitet mit Pigmenten, mit Kalk versetztem Gelb und Schwefelstaub. Hier gerät eine auch in ihrer Fragilität vorausberechnete Statik über die Anordnungskomposition in tänzerische Gruppenbewequng, verweist aber zugleich konzentriert auf das physikalische Gleichgewichtsproblem und auf den Menschen, dieses «Schilfrohr im Wind», wie Blaise Pascal uns im 17. Jahrhundert genannt hat.


Katalogblatt zur Ausstellung in der Produzentengalerie München 1987

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Verhältnis der Dinge, der Elemente und der Bewegung

Es sind spezifische, ‹art›-verwandte Komponenten, die Elisabeth Heindls plastische Arbeit prägen. Unter anderem hat sie Tanz studiert, sie weiß um die Struktur der Komposition, kennt das Problem und die Balance. Die Ausbildung im Bereich Bühnenbild hat sie den Umgang mit dem Raum gelehrt, die der Bildhauerei hat dazu beigetragen, nicht ein ‹Gesamtkunstwerk› schaffen zu wollen, sondern ein Kunstwerk, das sich auf den gesamten Raum, auf das geistige Umfeld bezieht. Und was sie nicht studiert hat, das hat sie immer interessiert, zuvorderst der Mensch, als Individium, aber auch als Einzelwesen das in dem ‹durchrassten› 0rdnungssystem Erde mit dem anderen gut auskommen möchte bzw. möge. Folglich sind die Künste ihr kein Babylon, einige Sprachen spricht sie (für ihre jungen Jahre erstaunlich) perfekt, in anderen weiß sie sich gut zu verständigen. Jede der Arbeiten von Elisabeth Heindl vereint in sich die Essenz des nach wie vor aktuellen, im 17. Jahrhundert formulierten Diktums von Blaise Pascal «...die Entscheidung ist was zum Gefühl gehört, wie die Wissenschaften zum Verstand gehören. Der Feinsinn hat Anteil an der Entscheidung, die Geometrie an der Vernunft.» Will heißen, in paraphrasierter Form, Elisabeth Heindl hat sich nicht für eine Synthese aus Gefühl und Vernunft entschieden, sondern für das Ganze, also für das, dem das Künstlerische immanent ist.

Es sind die proportionalen Verhältnisse der Dinge, der Elemente und der Bewegung zueinander, die sie beschäftigen, sie befindet sich also in einer jahrhundertealten Tradition. Dabei erlaubt sie sich den ‹freien›, den künstlerischen Umgang mit den Dingen nur dort, wo die Gesetzmäßigkeiten es zulassen.

Die extrem kopflastige Plastik mit ihrem zwar am obersten Punkt angeordneten, aber letztlich im mathematisch bedingten Zentrum bedarf genauester Berechnung. Selbst die scheinbar unabhängig gestaltete Form auf dem Gipfel dieser stählernen Schilfrohre muß nach physikalischen Prinzipien erarbeitet werden. Der Künstlerin Freiheit mag jedoch auch die Freiheit des Betrachters sein, interpretatorisch festzustellen: Zeigt diese Plastik neben dem kompositorischen Spiel auf der Klaviatur der Physik und der Abstraktion des Figürlichen nicht auch eine zwitterhaft philosophisch/künstlerische Kritik an einer Gesellschaft, die sich dem schieren Wissen, also nirgendwo dem der Vernunft immanenten Denken verpflichtet hat und so auf mehr als wackeligen Füßen steht?

Wie auch immer, entscheidend bei der Betrachtungsweise hat immer die künstlerische Vorgehensweise zu sein, im konkreten Fall die ‹bildhauerische›: Der Bildhauer ‹nimmt ab›, der Plastiker ‹baut auf›. Fragestellung: das Kompositionelle von Material, dessen Beschaffenheit via Experiment bzw. Studium via Studie, dann die Antwort via Ausführung. Die An-Ordnung bedingt das Procedere.

Das betrifft nicht anders die zeltartigen Plastiken von Elisabeth Heindl, nachempfunden, genauer nach-gedacht menschlichen Behausungen in Apulien. Zum einen benötigen die aneinandergelöteten Bleibahnen ein Gerüst, da sie sonst auf Grund ihres spezifischen Gewichtes und ihrer leichten Verformbarkeit zusammensinken würden. Andererseits überläßt Elisabeth Heindl dem Zufall (als integralem Bestandteil eines Gefüges, innerhalb dessen dem Menschen etwas Unbekanntes zu-fällt) die bildhafte Struktur der Oberfläche, der Fassade — und kommt so zu einem in sich ruhenden, weil gefestigten Ansatz von Ornament; möglicherweise als Rückführung auf archaische Zeichnungen des Lebens und seiner Umstände als Vorläufer (sehr) viel später geschaffener Formulierungen von Ordnung.


Ausstellungskatalog Raumbilder. Bildräume, Elisabeth Heindl und Annekathrin Norrmann in der Galerie der KV Dachau, 19. Oktober bis 5. November 1989
 
Do, 15.10.2009 |  link | (1015) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Bildende Kunst






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