Die Holographie und die Kunst Ein Vortrag Meine Damen, meine Herren, Sie alle hier haben das sicherlich schon einmal erlebt: Ein Kind bekommt eine Photographie vorgelegt. Zumindest im Kleinkindalter, im Alter von zwei bis vier Jahren, wird der Nachwuchs das Photo in einer Art und Weise einer Betrachtung unterziehen, die dem ‹routiniert› sehenden Erwachsenen abhanden gekommen ist, die sich so artikuliert: Nach einer ausführlichen Begutachtung der Vorderseite der Photographie schlägt die sogenannte kindliche Neugier — oder auch kindliche Aufgeschlossenheit, die die Zielrichtung des Neu-Zu-Erlebenden hat —, schlägt dieses kindliche Wissen-Wollen durch: das Kind schaut hinter die Photographie. Da muß doch etwas hinter den Dingen, dem Gesehenen sein, signalisiert der kindliche Denkmechanismus, ausgelöst von einer Logik, die noch gänzlich auf Begreifen ausgerichtet ist. Die bislang gemachten Erfahrungen des ein-, zwei- oder dreijährigen Kindes, gespeichert in dem kleinen Hirn — nicht im Kleinhirn —, kommen zum Tragen: Mutter, Vater, alle anderen Menschen im mittel- oder unmittelbaren Umfeld, der Stuhl, der Tisch, das Bett, alle anderen Gegenstände des täglichen Lebens, werden räumlich, also dreidimensional wahrgenommen. Und nun reißt die Photographie, auf der vielleicht die Eltern im Wohnzimmer, möglicherweise es selbst zu sehen, zu erkennen sind, das Kind aus allen bisherigen Erfahrungen: die Photographie bietet nicht mehr als eine platte Draufsicht. Daß etwas, wie in der real angetroffenen Welt, neben, ja hinter den Dingen ist, daß etwas nicht umgangen, also umgehend, umgreifend, ganz, vollständig erfahren werden kann, will so ohne weiteres in das kleine Hirn nicht hinein. Doch der Blick des Kindes hinter die Photographie hilft ihm nicht weiter. Wo sonst Raum, Tiefe ist, ist jetzt nur ein weißer Fleck, ein weißer Fleck, der für die fehlende dritte Dimension steht. Diese Erfahrung macht das Kind übrigens die ersten Male auch beim Fernsehbild — ein Beispiel, das nach den neuesten Erfahrungen, die im Bereich des Fernsehens ja mittlerweile auch hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland bzw. im Bereich des Österreichischen Fernsehens gemacht werden konnten, nur noch zum Teil stimmt; wir hatten ja schließlich, unter Zuhilfenahme von Polarisationsbrillen, die ersten ‹plastischen› Bilder aus dem Fernsehgerät im 3-D-Verfahren, genauer: stereoskopische Bilder, nicht zwei-, aber auch nicht dreidimensional. Aber dazu später mehr. — Beim normalen Fernsehbild jedenfalls schaut unser Versuchskind hinter das Gerät, angetrieben von Seherfahrungen, die auf Räumlichkeit verweisen. Ich gebrauchte vorhin die Adjektive ‹ganz› beziehungsweise ‹vollständig›. Mit ‹ganz› respektive ‹vollständig› ist auch die erste Einheit des Begriffsgebildes Holographie zu übersetzen. Holos kommt aus dem Griechischen und heißt, wie gesagt, ganz, vollständig. Der zweite Teil vom Ganzen, vom ganzen Wort Holographie, ebenfalls dem Griechischen entstammend, wurzelt im Begriff ‹graphein›, was soviel heißt wie ‹schreiben› oder ‹ritzen›, ‹einritzen›. Bleiben wir bei der geschriebenen oder auch geritzten Information, denken wir an die Graphik, an die Lithographie, deren Zwischenstation ja die geritzte Stein- oder Kupfer oder Metallplatte anderer materieller Beschaffenheit ist. Bevor ich jetzt auf die Beschreibung beziehungsweise Herstellung eines Hologramms komme — der Holograph übrigens erstellt, macht Hologramme und nicht, wie eine Händlerin in der Wochenzeitung Die Zeit per Inserat anbietet, Holographien —, bevor ich jetzt also auf das Hologramm komme, noch einmal kurz zurück zu unseren Versuchskindern. (Von Kindern, so heißt es ja bekanntlich, könne man lernen.) Nehmen wir mal an, die Versuchskinder sind wir, beispielsweise geboren an der Schwelle zum Jahr 1948, dem Zeitpunkt, an dem — im wahren Sinn des Wortes — die Holographie das Licht der Welt erblickte. Wir sind also das, was man gemeinhin — übrigens im Gegensatz zur künstlerischen Holographie — als erwachsen bezeichnet. Demnach bezeichnen wir uns als mehr oder minder — je nach Begabung, Ausbildung und Lernbereitschaft — als erfahren, was das Sehen, das Wahrnehmen betrifft. Wie dem auch sei: Viele der hier Anwesenden, nicht alle, aber doch viele, haben sich im Laufe der Zeit — es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriffen hatte, daß ich mich bewegen muß, um die gesamten Informationswerte, zunächst im einzelnen, dann im gesamten, zu erfassen, zu begreifen, zu verarbeiten. Kurzum: Mit Hilfe der Holographie gelang es mir, einige Degenerationserscheinungen an meinen Seh- und so Verarbeitungsapparat zu eliminieren; ich gucke heute, wie es so schön heißt, anders aus der Wäsche, gucke besser, gucke genauer hin. Ich habe den abhanden gekommenen Teil des Ganzen, Vollständigen wiedergefunden. Meine Optik macht keine zweidimensionalen Schnappschüsse mehr von dreidimensionalen Objekten oder Gebilden. Und lassen Sie mich, ein wenig doch im Zwang des Unterstreichen-, des Untermauernmüssens, die Kölner Malerin und Photographin Brigitte Burgmer zitieren, die sich seit rund drei Jahren mit aller erdenklichen Distanz Gedanken über das ‹Phänomen› Holographie macht — und mittlerweile selbst ihr erstes Hologramm gefertigt hat. In einem Aufsatz mit dem Titel Überlegungen zur holographischen ‹res extensa› anläßlich des ‹Cartesianischen Portraits eines jungen Malers›, der, neben der Holographie, einen Anknüpfungspunkt bei den Meditationen über die Grundlagen der Philosophie von Descartes sucht, schreibt Brigitte Burgmer: «Bei einem großen Hologramm eher denn bei einem kleinen kann ich mich ‹täuschen› lassen: indem ich mich dem holographischen Imago überlasse, setze ich das Objekt als seiend. Die räumliche Ausdehnung hilft mir dabei, wie es einem Foto nicht möglich ist, das dem zweidimensionalen Bereich der Grafik und Malerei nahesteht. Dennoch kann man die Holographie schon jetzt auch dem Bereich der Kunst zuzählen. Und in diesem Sinne hat Descartes die Kunst eingeholt. — Das beobachtete Verlangen, Bilder (wieder) zu verräumlichen, setzte bekanntlich lange vor Descartes in den bildenden Künsten ein, aber die Holographie ‹überbietet› die Renaissance gewissermaßen. Die Zentralperspektive feiert heute eine umfassende Wiedergeburt: wenn ich an ‹Tron› denke, den ersten Film mit grafischen Landschafts- und Raumdarstellungen, die mittels Computer entworfen wurden, sehe ich Parallelen zur Holographie; jene (oft linearen) tiefenräumlichen Bilder erzeugen eine Faszination, wie sie die Holographie erzeugt, besser: erzeugen wird, denn sie steht ja noch am Anfang ihrer Möglichkeiten im Bildlichen.» Ja, was ist denn nun die Holographie?! Sie hat auf jeden Fall nichts mit — ein bißchen anekdotisch, aber doch bezeichnend ist das Gespräch, das ich mit einem Kulturredakteur der Deutschen Welle in Köln hatte. Ich bot ihm, vor etwa drei Jahren, einen Beitrag über Holographie an. «Holo, Holo ...», dachte er laut am Telephon nach, «hat das was mit Holocaust zu tun?» Ich schwöre, die Wahrheit zu sagen, und nichts als die Wahrheit. — Also: Die Holographie, das Hologramm. Ich will mich jetzt hier auf Schilderungen, auf die Geschichte der Holographie und ihre Anwendungsmöglichkeiten konzentrieren. So wie sich früher andere um ‹Erklärungen› bezüglich der Photographie, der Lithographie, von Video und so weiter bemühen mußten. Das Hologramm ist, gemäß seiner Herstellung, ein höchst kompliziertes ‹Gebilde› — und dabei doch nur ein Film. Allerdings einer, der sich über uns, über unsere Seh-Erfahrungen lustig zu machen scheint. Von einem Film wissen wir, daß er eine plane Fläche hat. Der holographische Film ist von derselben Beschaffenheit, wenn auch die Beschichtung eine andere chemische Zusammensetzung aufweist als der in der Photographie. (Nicht nur aus Zeitgründen will ich auf einen Exkurs in die Chemie oder auch in die Physik verzichten; da gibt es kompetentere Zeitgenossen als mich. Wer im Anschluß an meinen Vortrag Fragen dazu hat, kann sie an Herrn Mielke richten, und auch ich will nachher, in der Holographie-Galerie, soweit ich dazu in der Lage bin, Detailfragen zur Technik beantworten.) Aufgrund der holographischen Technik also springt uns von diesem holographischen Film, von dieser holographischen Platte im wahrsten Sinn des Wortes etwas ins Auge, kommt uns aus dem Hologramm heraus etwas entgegen; das ist dann, der Fachsprache entsprechend, ein ‹reelles› Raumbild. Erscheint bei der Betrachtung des Hologramms, bei der Betrachtung dieser ›Lichtplastik› diese hinter der holographischen Platte, so spricht man von einem ‹virtuellen› Bild. Es gibt allerdings auch Hologramme, die sowohl reell als auch virtuell sind. Ein Beispiel dafür wäre das Hologramm von Harald Mike Mielke mit dem Titel Buddhas Verkehrsunfall, eine holographiespezifische witzige Interpretation eines Kenners fernöstlicher Weisheit: Das Auto, aus dem der Erleuchtete herausgeschleudert wurde, steht hinter der Bildplatte, ist also ‹virtuell›, und Buddha selbst ist ‹reell›, steht dem Betrachter des Hologramms näher, befindet sich zwischen der Bildplatte und dem Betrachter. Lassen Sie mich, der Vollständigkeit halber, weil ich gerade dabei bin, die vier verschiedenen Hologramm-Typen nennen. Da sind: Das Transmissionshologramm oder auch Durchsichtshologramm, weil die Lichtquelle des Hologramms von der entgegengesetzten Seite des Betrachters kommt. Dann gibt es das Reflexionshologramm oder Draufsichtshologramm; hier ist das Licht, die Lichtquelle auf der Betrachtungsseite. Nummer drei ist das Multiplexhologramm, auch Stereogramm genannt. Bei einem 360-Grad-Multiplexhologramm sind über tausend Einzelbilder erforderlich, die mit einer herkömmlichen Filmkamera ‹vorgefertigt› werden. Bei dieser Herstellungsweise werden Bewegungsabläufe sichtbar wie etwa ein in einen Tunnel ein- und ausfahrender Eisenbahnzug, eine junge Frau, die, wie beispielsweise in der Photoabteilung des Münchner Stadtmuseums, den Besuchern Kußhändchen zuwirft, oder eine witzige, die Möglichkeiten dieses Mediums verdeutlichende Spielerei des Amerikaners Dan Schweitzer, auf der? in dem? er aus einer Kinoleinwand heraus ins Publikum greift. Und dann gibt es noch das Weißlicht-Transmission-Regenbogen-Hologramm. Bei ihm wird das räumliche Bild mit den Strahlen des normalen, sogenannten Weißlichtes — also zum Beispiel, im besten Fall, mit Tageslicht sichtbar gemacht. Dieses Bild erscheint im Bereich des gesamten Farbspektrums. Ein Regenbogenhologramm ist die Lichtplastik mit dem Titel Ei.n von Harald Mike Mielke. Ei.n: also nicht eins, zwei, drei, sondern Ei x n, genauer: Ei x unendlich; klein n steht in der Physik für unendlich. In Augenhöhe hängen zwei 30 mal 30 Zentimeter große Glasplatten, zwischen denen das Hologramm, der Film im Format von 13 mal 18 Zentimeter, befestigt ist. Ohne (direkte) Beleuchtung — wie bei allen anderen Hologramm-Typen kann man durch die Platte sehen, zu erkennen sind lediglich schemenhaft ein paar Wellenlinien, die sogenannten Interferenzmuster. Nach Einschalten des Halogenspots, der exakt 62 Zentimeter über der Unterkante des Quadrats montiert ist, beginnt sozusagen die erste Phase der Erleuchtung. Drei, vier und mehr an der Spitze aufgebrochene Eier werden sichtbar, in horizontaler Anordnung und in grellem Grün. Bereits nach einer minimalen Aufwärtsbewegung verändern sich die Farben. Eine Abwärts/Seitwärtsbewegung, und die Sicht wird frei auf eine scheinbar unendliche Figurationskette von Eiern, die sich freischwebend und verjüngend irgendwo hinten im Raum verliert. Mit jeder noch so geringen Standortveränderung wechselt sie, innerhalb der Spektren, Farbe und Linienführung. Ich erwähne, beschreibe dieses Hologramm mit Vorliebe, weil ich dieses (derzeit sicherlich noch arg eingegrenzte) reizvoll und auch witzige Spiel mit der Grenzenlosigkeit der Materie als Synonym sehe. Ei.n steht für mich als Synonym für die Möglichkeiten, die sich, auch im Bereich der bildenden Kunst, durch die Holographie auftun. Ei.n interpretierend sehe ich das so: Für Mielke ist die Keimzelle der Ausgangspunkt organischen Lebens, ergo des — unter anderem — Denkens. Die Möglichkeit der dreidimensionalen Abbildung ist ihm Vehikel für den Hinweis, daß nur ein Bruchteil intellektueller Potenz und der daraus resultierenden Erkenntnis genutzt wird. Und er hat die Frage ‹Ei oder Huhn, Huhn oder Ei? was denn nun zuerst dagewesen sei?› medienspezifisch um eine, um seine Dimension erweitert — um die dritte Anhand des Beispiels mit dem Titel Ei.n läßt sich die Arbeit des künstlerischen Holographen, des Holographen im allgemeinen hervorragend beschreiben. Von diesem Hologramm existieren 100 Exemplare, an denen Mielke in seinem Labor neun Monate gearbeitet hat. Dem Katalog des Neuen Berliner Kunstvereins, in dessen Räumen im Februar 1979 die erste Holographie-Ausstellung auf deutschsprachigem Gebiet stattfand, entnehme ich die Äußerung Mielkes: «Laser-Licht, das Arbeitszeug eines Holographen ist wie für einen Bildhauer der Rohling. Natürlich schwingen wir nicht den Meißel, um die Materie zu bearbeiten, sondern benutzen Spiegel und Strahlenteiler, um den Photonenflohzirkus zu dressieren, damit hinter so etwas wie eine ›Lichtskulptur‹ herauskommt. Insofern unterscheidet sich der Arbeitsvorgang beim ›holographieren‹ grundsätzlich vom ›photographieren‹. Das Licht wird nicht genommen, wie es kommt, sondern wird zusammengesetzt.» Es hat lange gedauert, bis Mielke, der übrigens als einziger bundesdeutscher Holograph eine eigene Werkstatt hat, die einzurichten heute mindestens 200.000 Mark kostet, es hat lange gedauert, bis er geeignete Räume gefunden hatte. Die, in denen er jetzt arbeitet, sind nicht optimal, denn im Stockwerk über seinem Labor befindet sich ein Büro. Und wo Menschen arbeiten, da fällt bekanntlich auch mal was runter, was sich nicht mit dem Arbeitsprozeß eines Holographen verträgt. Sein Labor muß absolut schwingungsfrei sein. Wo in Maßeinheiten wie Nanometer (Nano ist gleich ein Milliardstel einer Einheit) gedacht wird, hat das Stakkato feierabendlicher Stöckel- oder sonstiger Absätze unter Umständen verheerende Folgen. Ist der Holograph nämlich gerade am belichten, hat die Aufnahme dann nur noch Makulaturwert; das Bild ist ‹verwackelt›. Aus dieser Zwangslage heraus holographiert Mielke, genauer: belichtet er vorwiegend nachts, wenn sich über dem mit hochwertigem optischen Gerät angefüllten tonnenschweren Stahltisch niemand mehr — wie profan! — zum stillen Örtchen hinbewegt und auch kaum mehr die Gefahr besteht, daß draußen ein LKW die liebliche Liebigstraße entlangdonnert. Für Ei.n, um bei diesem Beispiel zu bleiben, waren fünf Teilhologramme erforderlich als Grundstock. Jedes einzelne bedurfte eines voneinander unabhängigen optischen Aufbaus, und sechs bis sieben Belichtungsdurchläufe waren jeweils notwendig, bis die Arbeit den Qualitätsansprüchen ihres Schöpfers gerecht wurde. Der Herstellung eines dieser scheinbar im Raum schwebenden oder gar in ihn hineinragenden, also dreidimensionalen Lichtgebilde geht, wie bereits angedeutet, ein komplizierter technischer Ablauf voraus. Am Rand dieses schwingungsfreien Stahltisches ist ein Laser montiert. Der von ihm kommende Strahl wird auf einen runden, halbdurchlässigen Spezialspiegel gerichtet, der den Draht in einem bestimmten Verhältnis aufteilt. Der lichtschwächere Teil wird zum sogenannten Referenzstrahl, der die mit einer Spezialemulsion präparierte Photoplatte belichtet. Der andere Teil des Laserstrahls ist auf das Objekt, im Fall unseres Beispiels das Ei, gerichtet, demnach Objektstrahl genannt. Sein reflektierendes Licht transportiert einen Körperabdruck aus Lichtwellen auf die Platte. Doch erst das Zusammentreffen der beiden gleichschwingenden, ‹kohärenten› Strahlen löst die Abbildung aus, läßt ein sogenanntes Interferenzbild entstehen. Um diesen Vorgang zu präzisieren, zitiere ich jetzt aus einem Aufsatz von Bodo Dorra in der schweizerischen Kunstzeitschrift Du; der Fachautor Dorra bemüht sich seit vielen Jahren um die Verbindung von Wissenschaft, Technik und Kunst. Über die Entstehung des dreidimensionalen Bildes schreibt Dorra: «Beide Strahlenbündel, Objekt- und Referenzstrahl, überlagern sich in Form von Interferenzen oder ‹Wellenüberlagerungen› auf der holographischen Platte. Obwohl beide Strahlen aus derselben Lichtquelle kommen, besitzen sie dennoch nicht die gleichen Wellenmuster. Während der Referenzstrahl direkt und ohne Objektinformationen auf der holographischen Platte eintrifft, ist der Objektstrahl durch Reflexion ‹beladen› mit den Informationen der Oberflächengestalt des Objektes. Schwingen nun Referenz- und Objektstrahl ‹im Takt›, das heißt, treffen Wellenberg auf Wellenberg oder Wellental auf Wellental, so verstärken sie sich und belichten die holographische Platte. Beide Strahlenbündel überlagern sich darauf in Form von Interferenzen oder Wellenüberlagerungen (Difraktionsgitter). Diese Wellenüberlagerungen enthalten die dreidimensionalen Informationen, die auf der Platte in Form von Wellenmustern — einem oftmals bizarren Liniengewirr, das an Moiré-Muster oder auch an vergrößerte Fingerabdrücke erinnert — gespeichert sind. Das aufgenommene Objekt ist, wie der Fachmann sagt, noch ‹eingefroren›. Erst wenn aus einem bestimmten Einfallwinkel die holographische Platte mit Laserlicht oder Weißlicht beleuchtet wird, reproduziert das Interferenzmuster den aufgenommenen und ‹eingefrorenen› Gegenstand dreidimensional in den Raum.» Soweit Bodo Dorra für diejenigen hier Anwesenden, die insbesondere an einer Ein- oder Übersicht bezüglich der Technik interessiert sind. (Doch dazu kann, wie ich es vorhin schon sagte, der Holograph Mielke nachher in der Galerie exaktere Informationen liefern, sozusagen ganze, vollständige Informationen.) «Das, was das Verhältnis zwischen der Technik der Holographie und der Aufgabe der Kunst heute noch belastet», schreibt Eberhard Roters, Direktor der Berlinischen Galerie, im Katalogaufsatz zur New Yorker Ausstellung von Dieter Jung, einem von der Malerei und der Zeichnung kommenden Künstler, der sich sehr früh schon mit der Holographie zu beschäftigen begann, «das, was das Verhältnis zwischen der Technik der Holographie und der Aufgabe der Kunst heute noch belastet, ist der Umstand, daß Experimentatoren, der Faszination, dieser neuen Bildproduktionstechnik, die noch nicht richtig weiß, wofür sie eigentlich da ist, erliegend, einen Panoptikumseffekt anstreben, der vom Publikum mit angenehmem Gruseln zur Kenntnis genommen wird.» Bei den Worten von Roters wird man unweigerlich erinnert an eine Passage aus dem utopischen Roman von Stanislaw Lem mit dem Titel Transfer, in dessen Zentrum die Beschreibung von Licht-Projektionstechniken steht, derer sich die Menschheit ums Jahr 2000 — 1984 haben wir ja fast erreicht! —, derer sich die Menschheit ums Jahr 2000 bedient. Diese Passage nimmt Klaus Modick, unter anderem, zum Anlaß seiner Betrachtung in der Zeitschrift Merkur zum Thema Polaroides Bedürfnis und Holographie. Darin heißt es: «Die Hauptattraktion dieses überdimensionalen Holographie-Theaters ist eine lichttechnisch simulierte Pirogenfahrt über einen gefahrwimmelnden Urwaldfluß, der im Absturz eines Kataraktes endet.» «Ich wußte ja», so Lem in Transfer, «ich wußte ja, daß das alles — die Neger, diese ganze Reise, der afrikanische Wasserfall — nur staunenswerte Illusion war, aber reglos sitzen zu bleiben, wenn sich der Bootschnabel schon unter den wasserüberfluteten, teerigen Stamm des Riesenbaums schob, ging über meine Kräfte. Blitzartig legte ich mich lang, hob aber gleichzeitig den Arm: der ging durch den Stamm durch, ahne ihn zu berühren, ich spürte — wider Erwarten — gar nichts. Trotzdem blieb die Vorstellung erhalten, wir wären wie durch ein Wunder einer Katastrophe entkommen.» — Nicht anders erging es der eingangs zitierten Kölner Künstlerin Brigitte Burgmer: Aus jenem ersten 3-D-Film, den sie als ersten gesehen habe, sei sie «geflohen, weil ich mich weder vom Gongknüppel erschlagen noch von Pfeilen durchbohren lassen wollte». »Das», schreibt sie, «war zuviel.» Etwas weniger dramatisch sieht es Ludwig Wilding, Professor für experimentelle Gestaltung an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg: «Eines Tages», meint Wilding, «wird ein Schauspieler aus dem Bildschirm heraustreten, auf uns zukommen und uns die Hand geben.» Und ergänzend fügt er ein Beispiel aus dem akustischen Bereich hinzu: «Musik wäre heute ohne die 3. Dimension (Stereo und Kopfstereophonie) nicht mehr vorstellbar.» Doch lassen wir die Anwendungsmöglichkeiten der Holographie, die Möglichkeit, sich in der Geisterbahn oder auch vor dem heimischen Fernsehgerät scheinbar von Pfeilen durchbohren zu lassen, einmal beiseite, wenden wir uns weniger spektakulären und gruseligen Möglichkeiten der Holographie zu. Dazu möchte ich wieder ein Beispiel, ein Hologramm von Herrn Mielke heranziehen. Er hat anläßlich der etwas monströsen Tut-anch-amun-Ausstellung eben jenen Tut-Kopf holographiert. Ich selbst habe es erlebt, daß dieses Hologramm bei, sagen wir mal, weniger informierten, aber auch bei werbefachlich interessierten Menschen Staunen und Begeisterung ausgelöst hat (wobei natürlich die Identifikationsmöglichkeiten — «Ich war ja auch in dieser Ausstellung!» — auf der einen Seite beziehungsweise fachliche Überlegungen auf der anderen eine große Rolle gespielt haben dürften). Dieser TUT also, er ist exemplarisch für die Anwendungsmöglichkeiten im Museumsbereich. In der Sowjetunion, die in diesem Bereich tatsächlich eine ‹Führungsposition› für sich in Anspruch nehmen darf, rüsten die Museumsfachleute mit Hilfe der Holographie auf. Da in den Katakomben der Musentempel eine Vielzahl an Exponaten schlummert, die aus leicht erklärlichen Gründen das Licht der Öffentlichkeit nicht vertragen — aus restauratorischen Gründen zum Beispiel —, holographiert man sie. So muß kein Bildungshungriger mehr darben, denn auf diese dreidimensionale Weise paßt ein ganzes Museum sozusagen in eine Reisetasche. Sowjetische Fachleute haben errechnet, daß die 110 Exponate der Ausstellung Die Schätze des historischen Staatsmuseums in Kiew in einer Kiste von eineinhalb Kubikmetern Platz hätten — in Form von holographischen Platten. Der Kunstgenuß bleibt dennoch ganz, vollständig. Als besonders nützlich erweist sich dabei die Möglichkeit der Vergrößerung oder aber auch der Verkleinerung. Zum Beispiel bei sehr kleinen Ausstellungsstücken wie Miniaturen oder bei Detailwiedergaben. Ein für die Museen ‹angenehmer› finanzieller Nebeneffekt könnte dabei sein, daß ein Kunst- oder auch Technikmuseum ein teuer erstandenes Stück in holographierter Form hundertfach verkauft, ohne das Original weggeben zu müssen. Nach dem neuesten Stand der Entwicklung läßt sich ein Hologramm beliebig oft vervielfältigen. Ähnlich wie bei der Schallplattenproduktion wird ein sogenanntes Master-Hologramm hergestellt, von dem dann Kopien gezogen werden. (Ein für die Vervielfältigung wesentliches Hilfsmittel ist dabei die 1967 entwickelte sogenannte Dichromat-Gelatine.) Ein weiteres Beispiel der Anwendungsmöglichkeiten der holographischen Abbildung im Museumsbereich wäre jene Venus von Milo, die von den Besuchern der Holographie-Ausstellung im Pariser Holographie-Museum bestaunt wurde, die im August 1980 stattfand. Was also in der Sowjetunion bereits praktiziert wird, könnte auch bei uns bald Anwendung finden. Eine Statue, ein Relief oder beispielsweise die sehr real wirkenden holographierten Ikonen des Sowjetrussen Komar werden an ihrem angestammten Platz also vor Ort dreidimensional abgebildet und können von Museumsbesuchern in Köln, London, München, New York betrachtet werden oder aber als Wanderausstellung durch Sibirien — die Sowjets haben das gemacht — oder den südamerikanischen Busch gehen. Als Vorlagematerial weniger betuchter Künstler für Galerien und Museen ist das Hologramm allerdings weniger geeignet, denn dazu ist es doch ein noch etwas zu kostspieliges Medium; hierfür dürfte nach wie vor die Photographie am ehesten geeignet sein. Erwähnen möchte ich noch eine weitere Anwendungsmöglichkeit im musealen Bereich, genauer: die Holographie als Hilfemittel der Restauratoren. Mit Hilfe dieser Technik ist es möglich, zum Beispiel feinste Beschädigungen an wertvollen Kunstwerken zu entdecken, die das Auge nicht mehr erkennen kann. Und unterschlagen werden soll auch nicht, daß die Holographie zusehends mehr im militärischen Bereich gebraucht, oder sollte man besser sagen: mißbraucht wird; das Hologramm unterstützt den Piloten eines Düsenjägers, seine Geschosse dem Feind noch ‹näher› zu bringen, als das je zuvor möglich war. Auch die Vermessungstechnik bedient sich der Holographie; aus der Medizin ist sie nicht mehr wegzudenken, weil sie exaktere Diagnosen erlaubt; und in der elektronischen Datenverarbeitung ist man dabei, auf die Holographie umzustellen, und zwar deshalb, weil man mit ihrer Hilfe sozusagen um die Ecke gucken kann: weist ein Film, auf dem Daten gespeichert sind, irgendwelche Beschädigungen auf wie etwa Kratzer — was auf einem normalen Film die Information eliminieren würde —, so ist das jetzt nicht mehr weiter tragisch, denn die Information steht, wie gesagt, hinter den Dingen, hinter der Beschädigung. Die Entwicklung der Holographie haben — logischerweise — die großen Konzerne vorangetrieben. Quasi ein Abfallprodukt holographischer Forschungsarbeit ist das im Labor eines US-amerikanischen Flugzeugherstellers entstandene Pulslaserhologramm: Es suggeriert dem Betrachter, in einer Taucherglocke zu sitzen. Bei einer Sichttiefe von sechs Metern ist ein Schiffswrack zu erkennen, aus dem ein Froschmann herausschwimmt. Im Vordergrund begutachten zwei Taucher einen tönernen Krug. Am? im? linken hinteren Rand dieses Raumbildes beleuchtet eine Frau die Szenerie mit einer Handlampe; diese Lichtquelle ist identisch mit der des gesamten Hologramms. Diese zweieinhalb Millionen Dollar teure phantastische ‹Spielerei›, hergestellt mit lebenden Modellen — das ist möglich durch die Pulslasertechnik —, wird so um einen zusätzlichen Effekt bereichert. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal die Kölner Künstlerin Brigitte Burgmer zitieren, und zwar aus einem Beitrag, den sie für die Fotozeitung zur und um die Photokina 1980 verfaßte. Die leicht pessimistische und zugleich ironische Vision von Brigitte Burgmer lautet: «Ich stelle mir kleine 1- oder 2-Zimmerwohnungen vor, erweitert durch holographische Zimmer an den Wänden (statt Fototapeten): ein kleines Rokoko-Zimmer, oder darf's der Park von Versailles sein mit Wasserspielen, ein Stück Urwald, die Antarktis oder ein Blick in eine Galaxis. — Laden wir die Gespenster zu uns ein. Wir können sie nun zu uns an den Tisch setzen.» Davon einmal abgesehen, daß die Holographie Brigitte Burgmer heute eher, wie sie in ihren Überlegungen zur holographischen ‹es extensa ... schreibt, heute eher «Spaß, sinnlichen Spaß» macht, «weil sie das Spiel mit den Erkenntniskräften ermöglicht ...». Davon also einmal abgesehen: Mit den oben zitierten Reflexionen täte sich doch eine Möglichkeit für die Erbauer von Häusern mit hunderten Wohnklos, vielleicht nach dem Bauherrnmodell, an. Die Studenten in München oder in anderen von Wohnungsnot geplagten Universitätsstädten hätten mit Hilfe der holographischen Tapete dann vielleicht nicht mehr das Gefühl, ihr 22 Quadratmeter großes Abortement zu 350 Mark im Monat überbezahlt zu haben. Zurück zu den anderen Anwendungen der Holographie, hin zu ihrer Entstehung. Verschiedene Firmen der Elektronikindustrie haben eine Zeitlang in Sachen 3-D investiert. So bieten beispielsweise Hologramme von elektronischen Geräten nicht nur außerordentliche Einblicke in das Innenleben von Verstärkern und Transformatoren, auch des Designers Horizont wird durch diese Methode, durch diese Technik sozusagen ‹verrückt›; im erweiterten Sicht- respektive Lichtfeld der dritten Dimension wird manch einer von ihnen die Linienführung ändern. Design ist — sollte sein — ja nicht nur Formsache. Hauptanteilseigner der Holographie ist jedoch nach wie vor die Elektrophysik. Einem ihrer Denker ist auch die Geburt dieser ‹revolutionären› Abbildungsmethode zu verdanken. Dennis Gabor heißt er, ein 1979 gestorbener englischer Physik-Professor ungarischer Herkunft. Der «Vater der Holographie», wie er genannt wird, erhielt für sein ‹Kind› 1971 die internationale Höchstprämie, den Nobel-Preis, den Nobel-Preis für Physik der schwedischen Dynamit-Dynastie. Gabor sann während der Kriegs- und Nachkriegszeit über Möglichkeiten nach, Bilder unter einem Elektronenmikroskop deutlicher zu machen. 1947 war ihm dann ein Licht aufgegangen, daß es dazu kohärentes, also zusammenhängendes, gleichschwingendes braucht, dessen Strahlen in Wellenlänge, Schwingungsphase- und Ebene übereinstimmen. Zwölf Jahre sollte es allerdings noch dauern, bis jemand auf diese in der Natur nicht vorkommende Lichtquelle gestoßen war. Gordon Gould war es, der 1962 den ersten Rubin-Laser realisiert hatte. (Um kurz ein Beispiel bezüglich des elektrophysikalischen Ansinnen von Dennis Gabor zu erwähnen: Die Sowjets sind längst in der Lage, mit einem Elektronenmikroskop ein dreidimensionales Bild von einem — sich ständig bewegenden! — Neuron, einer Nervenzelle, herzustellen, das einen Durchmesser von weniger als 0,001 Millimeter hat.) Für die Holographie entscheidend ist die Möglichkeit, den Laserstrahl teilen zu können. Den diesbezüglich maßgeblichen Impuls gab die Zweistrahlentechnik, zuende gedacht 1960 von Emmett Leith. Den Kulminationspunkt am Holographie-Gestirn schufen dann gemeinsam ein sowjetischer und ein in die USA eingebürgerter bulgarischer Forscher. Yuri N. Denisyuk machte das Hologramm 1962 weißlichtsichtbar (als natürliches Licht), und T. A. Shankoff lieferte im selben Jahr die — vorhin erwähnte — dichromatisierte Gelatine für die Plattenbeschichtung. Dieser kurze Abriß macht deutlich, daß die künstlerische Holographie ohne rein wissenschaftliche Intention nicht existierte. Auch diejenigen, die schon in den sechziger Jahren begannen, in diesem Medium eine Startrampe für kreative Höhenflüge zu sehen, rekrutierten sich in erster Linie aus Forscherkreisen. Der Amerikaner Stephen A. Beton entwickelte parallel zur rundum aufkeimenden künstlerischen Aktivität gegen Ende des sechsten Jahrzehnts das Regenbogenhologramm, sein Landsmann Lloyd Cross kurze Zeit danach das synthetische, das Multiplexhologramm. Einer der ersten nicht wissenschaftlich ‹vorbelasteten› Künstler, die in einer Galerie, konkret: in der Leo Castelli-Gallery in New York, ausstellten, war Bruce Nauman; das waren allerdings noch recht unbedarfte Anfänge, diese holographierten Grimassen. Die Wissenschaft macht weiter. Aber im Bereich der Display-Holographie sind die Versuche in den Laboratorien der großen Konzerne merklich zurückgegangen. So läßt sich heute mit Flug und Recht behaupten, daß hier die Kunst und, bis zu einem gewissen Grad, die Werbung ein neues Medium am Leben erhält. Diejenigen, die dieses Medium weiterhin ‹beatmen›, das einige Fachleute für die größten optische Sensation seit den prähistorischen Höhlenmalereien halten, nennt Werner Rhode «eine friedliche Internationale». Dreißig, vierzig sind es weltweit, die holographisch-künstlerisch arbeiten. Manch ein Künstler arbeitet sporadisch mit diesem Medium, darunter Salvador Dalí mit seiner holographischen Collage Holas! Holas! Velasquez! Gabor! oder den 360-Grad-Multiplexhologrammen Dalí malt Gala oder Der Schäfer und die Sirene. Holographie-Schulen gibt es unter anderem in New York und in Kalifornien, Ausstellungen gab es 1972 in New York, dann dort wieder 1975, und von 1976 bis 1979 in Stockholm, Paris, London, Straßburg und Tokio. Hier bei uns fand eine Ausstellung, wie bereits erwähnt, im Februar bis März 1979 im Neuen Berliner Kunstverein statt, die dem «Vater der Holographie», Dennis Gabor, gewidmet war. Längst gibt es auch reine Holographie-Museen, in New York etwa oder in Paris. Museum nennt sich auch eine allerdings eher als Galerie zu bezeichnende Präsentationsstätte für Holographie in Pulheim bei Köln, und seit Dezember des vergangenen Jahres haben wir in München eine Galerie, die ausschließlich Hologramme ausstellt und verkauft. Die können wir ja nachher besichtigen. Einer aus dem Kreis dieser «friedlichen Internationale», aus dem Kreis der Lichtbildner, der Amerikaner Rick Silberman, brachte dieses Faszinosum auf folgende Formel: Die Holographie sei eine «unaufhörliche, glaubhafte Illusion», sie sei «simultane Realität». Eine der Arbeiten Silbermans, die durchweg von seiner früheren Tätigkeit als Industriedesigner geprägt sind, belegt seine Aussage eindrücklich: das Hologramm mit dem Titel Meeting. Auf einem kleinen Wandbord steht ein Weinglas vor milchig-grünem Licht. Nach genauerer Begutachtung ist in etwa der Mitte des Glases eine Fraktur zu erkennen. Hier kopulieren sozusagen Realität und Illusion: Am Stiel läßt sich das Glas greifen, ist Wirklichkeit, oberhalb der Bruchstelle ist es Schein — eine aus Licht gegossene Form. Nimmt man diesen Glastorso jedoch von diesem Wandbord, wird das gesamte Hologramm sichtbar. Dennoch bleibt der Eindruck: Schein oder (Nicht-)Sein? das ist hier die Frage! Eine exemplarische Zwischenbilanz der Holographie war und ist, medienspezifisch umgesetzt, und auch Hinweis auf noch zu erschließendes Terrain, war und ist das Hologramm mit dem Titel Hand Held von Sam Moree. Seine Interpretation des Mediums ist tautologisch: Im Hologramm ist eine Hand zu sehen, die ein Hologramm hält, in dem ein Hologramm zu sehen ist, das von einer Hand gehalten wird, die ein Hologramm hält — und so weiter. Hat nicht Gertrude Stein gesagt: Ein Hologramm ist ein Hologramm ist ein Hologramm!? Und: Unendlich? Nein. Dazu sind die technischen Möglichkeiten der Holographie noch zu begrenzt — trotz erheblicher Fortschritte der letzten Zeit; Morees Arbeit deutet, vorerst, noch an. Läßt man aber seiner Phantasie freien Lauf, geht in diesem Sujet die These auf, nach der jede Zelle alles Leben in sich birgt. Quasi Mikrokosmos Hologramm: Fällt eines zu Boden und zerbirst in tausend oder mehr Teile, bleibt in jedem der Bruchstücke die ganze, die vollständige Information enthalten; also entstünden aus der einstigen Lichtplastik von, sagen wir mal, 15 mal 15 Zentimetern tausend oder mehr Hologramme. Das zum Beispiel macht sich, wie vorhin als Beispiel erwähnt, die elektronische Datenverarbeitung zunutze. Und längst kennen wir ja die These aus der Hirnforschung, daß das menschliche Gehirn dreidimensional funktioniert. Mal ein bißchen arg populär gedacht hieße das: Den wegen des gestrigen lang andauernden und ausschweifenden Festes abgestorbenen Zellen ist nicht weiter nachzutrauern. — Aber ich will mich jetzt hier nicht mit der Medizin anlegen ... Ich sage nur: Karl Pribram, John Eccla beziehungsweise Karl Popper. Nun haben viele Menschen mit diesem Medium (soweit es ihnen überhaupt ein Begriff ist: ich denke da zum Beispiel an den bereits erwähnten Kulturredakteur der Deutschen Welle), viele haben mit der Holographie Probleme, weil sie es schlichtweg für nichts anderes als Technik, allenfalls noch für eine Technik halten und verhalten sich deshalb diesem Medium im Zusammenhang mit der Kunst mehr als reserviert. Das haben mir gegenüber viele Menschen geäußert, und eine Kritikerin der Süddeutschen Zeitung hat mir hat in einem Brief sogar schriftlich gegeben. Nur: Es stellt sich die Frage, wie vorhin schon einmal, was ist die Lithographie, die Photographie, der Siebdruck, was ist Video denn anderes, zunächst einmal, anderes als eine bestimmte Technik?! Wie war das denn mit der Photographie?! Als sie erfunden worden war, erklärte der französische Maler Paul Delaroche die Malerei für tot. Die Malerei ist nicht tot, die Photographie ist heute aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken, sie hat die Malerei nur in verschiedenen Bereichen abgelöst, beispielsweise in der Schlachtenmalerei; ein Schlachtenmaler wie Albrecht Adam hätte heute nichts mehr zu tun — oder müßte sich eine Kamera kaufen. So wird mit ziemlicher Sicherheit die Holographie, das dreidimensionale Medium, die zweidimensionale Photographie in bestimmten Bereichen ablösen. Die Holographie ist also eine Technik, allerdings eine, mit der sich der Bauer (oder wer auch immer) schwer tut, weil er nicht frißt, was er nicht kennt. Lassen Sie mich zur Bekräftigung meiner Worte noch einmal aus dem Aufsatz von Eberhard Roters zitieren. Roters schreibt: «Neulich behauptete ein Künstler mir gegenüber, Holographie sei doch eigentlich keine Kunst, sondern eine technische Spielerei, bei der der Reiz der Neuheit überwiege. Ich», also Roters, «ich antwortete ihm, das habe vor 150 Jahren für die Lithographie genauso gegolten.» Und weiter führte Roters aus: «Marshal McLuhans seinerzeit gefeierte These The Medium is the Message hat sich inzwischen längst als medienmaterialistischer Irrtum erwiesen. Nicht das Medium ist die Botschaft («Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit», so Ludwig Wittgenstein; Anmerkung d. Verf.). Das Medium aber ist — so trivial das klingt, sei es doch ausgesprochen — nicht mehr und nicht weniger als der Träger des Bildes. Allerdings wechselt das Bild im Laufe der Geschichte seine Träger, und jede Geschichtsepoche sucht sich diejenigen Bildträger aus, die für die Spiegelung ihres eigenen Bewußtseins die geeigneten sind.» — Soweit Eberhard Roters dazu. Der Maler, Zeichner und Lichtbildbauer, also Holograph Dieter Jung hat Roters — und nicht nur ihn — darauf aufmerksam gemacht, daß Francesco Petrarca im 14. Jahrhundert zum ersten Mal einen Berggipfel nicht lediglich aus praktischen Gründen erstiegen hat, sondern um die Gewalt des dreidimensionalen Umraums rein zu erleben. Dem steht eine andere Bergbesteigung gegenüber, die dreihundert Jahre später stattfand. Im Jahr 1647 bestieg Blaise Pascal gemeinsam mit seinem Schwager einen Berg südlich von Clermont, um auf dem Gipfel Luftdruck-Versuche durchzuführen. Seine Forschungsergebnisse faßte er in dem Satz zusammen, man wolle doch nicht behaupten, daß die Natur die Leere auf dem Berg mehr verabscheue als in der Ebene. Petrarca bestieg einen Berg und entdeckte dort die Gewalt des Universums, Pascal stieg auf einen Berg und entdeckte dort die Gewalt der Leere. Und Roters kommentiert das so: Die spezifische Wirkung des holographischen Bildes beruhe darauf, daß es deutlich greifbar und von wechselnden Standpunkten aus körperlich betrachtbar vor unseren Augen stehe und daß es sich dennoch zugleich als ein stofflich ungreifbares Phänomen zu erkennen gebe, eine Lichterscheinung, geboren aus den Schwingungsstrukturen des ‹leeren› Raums, die sich in der Provokation des Lichts manifestiert. Das holographische Bild antwortet damit auf die Schwingungsstruktur unserer Bewußtseinstätigkeit. Soweit ein kleiner Ausflug in die Auseinandersetzung anderer mit der Holographie und deren Argumentation. Gehen wir doch einfach mal davon aus — und das ist jetzt an die Kritiker gegen die Holographie gerichtet —, gehen wir davon aus, daß der Holograph, der Kunst macht, sich einfach nur seiner speziellen Technik bedient, um daraus eine Lichtplastik entstehen zu lassen. Es ist demnach lediglich die Frage der Umsetzung, hier die von etwas Materiellem in etwas Immaterielles, wie Bodo Dorra argumentiert. In der Kunstzeitschrift Du schreibt er: «Die Holographie, die als eine Symbiose aus Wissenschaft, Technik und Kunst bezeichnet werden kann, hat auf jeden Fall das erreicht, was seit Jahrhunderten in der bildenden Kunst eine Utopie war: die Fixierung des Illusionären, die Realisation von Traumbildern, die wie eine Fata Morgana in der Luft zu schweben scheinen. Damit wurden die Grenzen zwischen Realität und Imagination verwischt und ein Moment der Metamorphose erreicht, wenn etwa eine Linie, ein Gegenstand oder ein Bild im Begriff war, sich in etwas anderes zu verwandeln. Weiterhin hat sie die Reizbarkeit der geistigen Fähigkeiten erreicht und damit zu einer Erweiterung des kreativen Rezeptionsvermögens beigetragen.» So, jetzt habe ich mit Hilfe anderer meine eigenen An- und Einsichten genügend — hoffe ich — ganz deutlich gemacht und möchte zum Abschluß noch ein anderes, eigenes Bild beschreiben, das im Zusammenhang mit der Holographie in meinem Kopf festgemacht hat. Eines der Hologramme von Harald Mike Mielke hat den Titel Slartibartfass. Das ist eine Figur aus der hintergründig, subtil-komischen Science-fiction-Hörspiel-Serie des sehr britischen Autors Douglas Adams. Der Küsten-Architekt Slartibartfass vom erdähnlichen Planeten Magrathea, der beispielsweise für die norwegische Küste preisgekrönt wurde, entgegnet auf die rhetorische Frage eines Erdenbewohners, «Ich dachte, ihr wärt alle tot?»: «Tot? Nein, wir haben nur geschlafen.» Ich bedanke mich, daß Sie nicht alle geschlafen haben. Abschrift des Vortrages: ‹Künstlerische Holographie›, gehalten an der Akademie der Bildende Künste, München am 17. Januar 1983, 18.00 Uhr Dieser Vortrag wurde, in abweichender Form, zwischen 1983 und 1985, auch an anderen Institutionen gehalten. Zu diesem Thema gab es durch den Autor verschiedene Veröffentlichungen in mehreren Tages- und Wochenzeitungen sowie Hörfunksendungen innerhalb der ARD und der SRG.
Der begradigte (J. S.) Bach Fragen zu Ökologie und Ästhetik Wir leben in einer Gesellschaft, die zu einem großen Teil aus ihrem Fortschrittsglauben herausgerissen zu sein scheint. Es stellt sich die Frage nach den Gründen dafür: daß aus ehemals sogenannten ‹braven Bürgern› so etwas wie ‹Chaoten›, aus loyalen ‹grünen Witwen› engagierte Politikerinnen im Lager der ‹Grünen› geworden sind? Eine neue Generation leistet seit geraumer Zeit Widerstand, stellt gegen vor gar nicht so langer Zeit selbstverständliche gesellschaftliche Normen neue Sinn- und Seinsfragen. Und auch ein Großteil der älteren Generation sieht sich in ihren bereits vor langer Zeit geäußerten Zweifeln an einer technoid ausufernden Zivilisation bestätigt. Andererseits ist aber gerade diese ‹Zivilisation› für weite Teile der Bevölkerung stolz verklärter Träger einer nahezu paradiesischen Zukunft im Sinne materiellen Wohlstands — eine ‹Zivilisation›, die sie gerne — aus den genannten Gründen — in die dritte und nunmehr vierte Welt exportieren möchte. Erörtert werden sollen hier keine aktuellen politischen Fragen, wohl aber die nach den Ursachen einer Bewegung, die sich die Errettung beziehungsweise die Bewahrung unserer natürlichen Umwelt aufs Banner geschrieben hat. Ausgangsbasis ist für den folgenden Versuch, ursächliche Zusammenhänge zu verdeutlichen, ist die Kunst: Da jede Kunst von jeher ihre Wurzeln im gesellschaftlichen Gefüge hat, ist sie an sich politisch. Längst hat die Kunst ihrer Aufgabe entsagt, eine zusehends monströsere Wirklichkeit zu verklären. (Auch L'art pour l'art ist ein Faden des gesellschaftspolitischen Netzwerkes. Es gibt davon auch eine Deutung oder auch Wertung des Apolitischen, eine Bewegung, die um ihrer selbst willen auf der Stelle tritt; von dieser soll hier jedoch nicht die Rede sein.) Die meisten Künstler verstehen ihre Arbeit als Kommentar zu den politisch bestimmten Zeitläuften. Und tatsächlich: Dort, wo die Kunst es unterläßt, über den Tellerrand der Wirklichkeit zu schauen, wird sie zum Kitsch. Aber kitschig ist beileibe nicht nur der ‹röhrende Hirsch›, die Hummel-Figur, bisweilen auch der Sozialistische Realismus. Als Kunst deklariert geht Kitsch auch in Formen auf, die wir uns angewöhnt haben, als ‹modern›, ‹postmodern› oder ‹zeitgenössisch› zu bezeichnen. Ob Kunst von heute oder die eines vergangenen Jahrhunderts: immer bedient sie sich einer ihr adäquaten Darstellungsmethode geistiger Erkenntnis. Und deren systematische Durchdringung nennen wir Ästhetik. Ästhetik. Wer nimmt diesen Begriff nicht tagtäglich in irgendeinem Zusammenhang für sich in Anspruch?! Ein an mehreren Rundfunkanstalten und Magazin-Redaktionen gefragter Kommentator namens Ludolf Hermann beispielsweise nannte einmal den größten Teil der Massen, die sich an einer Friedensdemonstration beteiligten, «unästhetisch». Dagegen fällt vielen Menschen bei der Betrachtung von riesigen Schlachtengemälden kein anderes Adjektiv ein als «ästhetisch». Lehre vom Schönen? Schon die gesamte antike Ästhetik, auf die sehr viele Menschen unter uns sich nur allzu gerne berufen, steckte voller Widersprüche. Und diese sind gut erhalten. Nach der Definition des Philosophischen Wörterbuches des Seemann-Verlags aus der [ehemaligen] DDR geht ein wesentliches Moment auf im griechischen Wort ‹Kosmos›. Dies bedeute «Ordnung, Schönheit, Weltall zugleich». «Kosmetik», heißt es da, «enthalte noch diese Komponente». Und weiter: «Die Ordnung der Welt zu diesem Zeitpunkt als ‹schön› empfinden konnte allerdings nur eine Klasse, die mit sich selbst und ihrer Existenzform zufrieden war.» — Es handelte sich bei dieser ‹Klasse› um die Aristokratie der Antike. Und so manch einer möchte ihr auch heute angehören ... Bazon Brock, Wuppertaler Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung, verweist in seiner Begriffsbestimmung zunächst auf Anzeigen in italienischen Zeitungen unter der Rubrik ›Aestethica›, die nichts anderes meinen als Maniküre und Pediküre. Historisch gesehen sei Ästhetik jedoch — siehe oben — die Lehre vom Schönen. Von dieser Lehrmeinung habe man sich jedoch spätestens seit 1750 verabschiedet. Von diesem Zeitpunkt an beschäftigt sich der denkende Mensch, lange vor der Kunstgeschichte und auch der Philosophie, so Brock, mit der Frage: «Alle Menschen sind von Natur aus mit demselben neurophysiologischen Apparat ausgerüstet. Was wir von Natur aus sind, sind wir in einem unglaublich hohen Maße alle miteinander gleiche Weise. Weshalb kommen wir dann angesichts derselben Gegenstände in unserer Lebensumgebung alle zu so unterschiedlichen Urteilen?» Friedrich von Schiller unterscheidet in seinen Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände so: «Das Angenehme vergnügt bloß die Sinne und unterscheidet sich darin von dem Guten, welches der bloßen Vernunft gefällt. [...] Das Gute, kann man sagen, gefällt durch die bloße vernunftgemäße Form, das Schöne durch vernunftähnliche Form.» Gebaute Häuser Schillers Betrachtung des Ästhetischen erinnert an das Postulat der Bauhaus-Künstler zu Beginn der zwanzigerer Jahre. Es war — unter anderem — die Forderung nach der guten Form, die auch das industriegefertige Produkt ausweisen sollte, die sich ergibt aus vernunftbestimmtem Materialeinsatz und entsprechendem Gebrauch. Mit der positivistischen Ästhetiktheorie des Bauhauses zeichnete sich allerdings auch die Gefahr ab, daß es in der Folge weniger auf systematische Durchdringung und vielmehr auf die Verschleierung des Aggressionspotentials industrieller Fertigung ankommen könnte. Bauhaus-Kritiker wie der US-amerikanische Architekturhistoriker Alexander Tzonis machten Bauhaus-Lehrern wie Walter Gropius, Mies van der Rohe oder anderen den Vorwurf, sie machten «aus jedem Teeglas ein Problem konstruktiver Ästhetik». Doch bei aller — bereits postmodernistisch anklingenden — Kritik am Bauhaus: Wenn Mies van der Rohe geäußert hat, «wir sollten neue Formen entwickeln», so bezog sich das nicht nur auf eine Vereinfachung der Produktion, sondern sie sollte auch eine Veränderung politischer Verhältnisse spiegeln — hin zu mehr Demokratie. Ein weiterer Apologet und Mitbegründer einer neuen, durchdachten Form um einer neuen Lebensqualität willen war Le Corbusier, der Schöpfer des Beton brut, also des ‹reinen› Betons als preiswertem und jederzeit verwendbarem Baustoff (der ja bereits in der Antike Verwendung fand). Er äußerte 1937, allerdings kaum ahnend, welche (teilweise bewußten) Mißverständnisse, ja gezielte Fehlinterpretationen das zehn, zwanzig Jahre danach hervorrufen sollte: Da die Innenstädte dem zunehmenden Individualverkehr keinen Raum mehr böten, müsse man sie abreißen und nach außen verlegen — die Ville verte, die grüne Stadt oder Stadt im Grünen. Diese Argumentation kam in der Phase des Wiederaufbaus manch einem Großbauunternehmen, in Abstimmung mit euphorisierten Politikern, gerade recht. Zwar ließen sie im Einvernehmen mit Städteplanern und Architekten die Innenstädte oder das, was von ihnen übriggeblieben war, nicht ganz abreißen, ließen ein paar Reste doch noch in unseren Zentren stehen. Doch Satellitenstädte setzten sie zuhauf in den Sand — und nicht nur in den märkischen, sprich (zum Beispiel) Märkisches Viertel in Berlin. Bazon Brock (und vor ihm andere) gab diesen zubetonierten Stadtrandgebieten drastische Namen: Kaninchenstall-Architektur, Legebatterien-Architektur oder Pissoirhaus-Architektur, sprich Gropius-Stadt in Berlin, sprich Nordwest-Stadt in Frankfurt am Main, sprich München-Neuperlach et cetera, et cetera. Ästhetizistische Expansion Dieses hohe Maß an Aggressivität ist auch in energiefressenden Industrieprodukten enthalten. Obschon: Wer ist noch nicht der Faszination perfekt, perfektionistisch gestalteter Produkte erlegen?! Einer eleganten Hochhaus-Spiegelfassade etwa, einer ‹schwerelosen›, gelassen gespannten, kilometerlangen Autobahnbrücke, der ‹Erotik› einer Concorde oder eines anderen Flugkörpers — einer Rakete möglicherweise. Der Kontrollturm eines Kernkraftwerkes, das Röhrengewirr einer Raffinerieanlage (vielleicht auch das des Céntre Beaubourg in Paris), das kinetische Spiel von Computerbändern oder gleisendes Neonlicht können schön sein, können Reize ausüben. Oft werden sie ästhetisch genannt und sind jedoch nicht mehr als ästhetizistischer Überschwang. Doch vor dieser Überreizung warnt, wie so viele, auch Jürgen Claus, Künstler und Kunstschriftsteller. In seinem Buch Expansion der Kunst schreibt Claus bereits 1982: «Lassen wir uns nicht auf die Technokraten ein. Stoppen wir den Künstler, der sich an eine technoide Zukunft verkauft, die den Menschen ‹ästhetisch› reguliert. Denn offenbar hat das schöpferische Potential des Menschen, wenn es nicht durch Einsicht in und Rücksicht auf den Menschen gerichtet ist, fließende Grenzen zu totalitären Vorstellungen.» (Um Mißverständnissen vorzubeugen: Claus' Argumentation zielt nicht auf eine Abkehr von der Nutzung aller technischen Möglichkeit durch den Künstler. Er selbst setzt sich, als Künstler, intensiv damit auseinander. Aber er warnt vor einer Kunst, vor einem Künstler, der alle Brücken des Tradierten hinter sich abbricht, um nur noch im Strom technologischer Nutzung ‹fortzuschreiten›.) Schon Schiller sagte in seinen Zerstreuten Betrachtungen: «Weil nichts den Verstand nötigen kann, in seinem Geschäfte still zu stehen, so muß es die Einbildungskraft sein, welche demselben eine Grenze setzt. Mit anderen Worten: Die Größenschätzung muß aufhören, logisch zu sein, sie muß ästhetisch verrichtet werden.» Auf der einen Seite der Verstand, der erkennt und verwirklicht, was machbar ist, und auf der anderen das Bedürfnis des Menschen nach dem Schönen, das bei Schiller durch vernunftähnliche Form gefällt. Exakt im Sinn dieser Ähnlichkeitsbeziehung ist der Mensch Ebenbild des Schöpfers — wer oder was auch immer das sein mag. Der Mensch ähnelt in seiner Fähigkeit, das Geschaffene, das Gewachsene verstehen zu lernen, der Kraft, die Natur und damit ihn selbst hervorgebracht hat. Kunst — Natur Menschenähnlichkeit ist auch das Wesen der Kunst. Kunst macht den Menschen transparent, macht ihn verstehbar, oder aber, wie Paul Klee es formuliert hat: Kunst sei menschliche Realität, in der sich die Verwirklichung seines Wesens — das sei seine Freiheit — manifestiere. Das Kunstwerk ist eine durch intelligentes Vermögen erzeugte Realität — wie auch immer die Intelligenz gelagert sei. Die Wirklichkeit des Kunstwerkes läßt sich deshalb auch nicht ohne intellektuelle Anstrengung erkennen. Nicht anders verhält es sich mit der Natur. Unsere Forschung hat der Natur so manches Geheimnis entlockt, das wir uns zunutze machen. Aber je intensiver wir die Handhabung der Naturgesetze betreiben, um so mehr intelligentes Verstehen der Naturwirklichkeit, also die Art und Weise, wie sie als komplexer Zusammenhang wirkt, ist erforderlich. Wollen wir diesen Wirk-Zusammenhang, von dem letztlich auch unser Leben abhängt, nicht nachhaltig stören oder gar zerstören, bedarf es nachdrücklicher geistiger Anstrengung. Sowohl die Kunst als auch die Natur sind Tat-Sachen. Sie sind Gegebenheiten, die den Charakter des Geschaffenen haben. Diese produzierten Ergebnisse sind in ihrer Existenzweise aber vom erkennenden Menschen abhängig. Wo diese Aussagen der Kunst nicht erkannt werden, bedeutet sie, die Kunst, nichts, ist sie wirkungslos. Und die Natur ist solange Gegner des Menschen, bis er ihre Aussagen verstanden hat. Sei es in der lebenserhaltenen Kraft der Elemente oder in der allgemeinen Gültigkeit der Naturgesetze. Reflexivität Die Ökologie — etymologisch: die Lehre vom Haushalt(en) — ist die modernste Naturwissenschaft. Sie versucht den Menschen erkennend wieder einzugliedern in seine natürliche Existenz, aus der er sich unter Einsatz von Technologie und der daraus resultierenden Technik selbst herausgenommen hat. Katalysator von Ökologie und Ästhetik ist die Reflexivität. Bazon Brock bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Maler wie René Magritte, die «ihre ganzen Themenœuvre nur aus der Aufklärung über diese reflexiven Mechanismen gewinnen», denen eine verstandesgemäße Tätigkeit unterliegt. Betroffen durch die Resultate unseres Handelns, durch die Gestaltung unserer Umwelt, verengen wir zugleich die eigenen Lebensbedingungen, beispielweise durch die Umweltbeschädigung oder auch -zerstörung. Das reine (also nicht reflektierte) Tun ist heute zum Beispiel das Bauen von Maschinen, dessen Folgewirkungen wir nicht auf die gleiche Weise bewältigen können wie das ursprüngliche Produzieren. Diese sich ständig verändernden Mechanismen hat sich, so Brock, die Kunst seit 500 Jahren «erklärtermaßen zur eigenen Fragestellung gemacht». So ergibt sich auf natürliche Weise ein enger Zusammenhang zwischen künstlerischen und ästhetischen Problemstellungen einerseits und ökologischen andererseits. Für Enoch zu Guttenberg, der im Bund Umwelt- und Naturschutz zuständig war für Ethik-Belange, ist es «im Grunde immer wieder dieselbe Frage, ob alles, was machbar ist, auch getan werden darf». Mit dem ungeheuren Fortschrittsglauben, so Guttenberg, gehe es uns heute so wie einst beim Turmbau zu Babel. Oder anders, mit unserem ‹Dichterfürsten› Goethe in dessen Gedicht Der Zauberlehrling: Wir werden die Geister, die wir riefen, nicht mehr los. Als Sohn eines konservativen Politikers und als engagierter und praktizierender Katholik, als im Sinne von conservare, also des Bewahrens denkender Mensch ist Guttenberg über jeden Verdacht erhaben, als ‹Revoluzzer› die eigenen Reihen sprengen zu wollen. Doch gerade er bezeichnet es als «im Grunde absurd, daß gerade die Konservativen immer von Fortschritt reden und dabei aber nicht konservativ sind, sondern zerstörerisch». Der Beispiele sind genug, doch eines erscheint Guttenberg als besonders drastisch. Es ist — vergessen, aber akut — der Rhein-Main-Donau-Kanal, den er als Rhein-Main-Donau-Altar bezeichnete, vor dem viele Politiker knien, um dem Götzen Wirtschaftswachstum zu huldigen. (Der Rückzug aus der atomaren Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf geschah ja weder aus Gründen der reinen Vernunft noch aus vernunftähnlichen Gründen ...) Doch der Natur- und Umweltschützer Enoch zu Guttenberg hat noch einen weiteren Verursacher beträchtlicher ‹Flurschäden› im Visier. Als international geachteter Dirigent sakraler Musik empfindet er es als unerträglich, daß Bachsche Messen oder Passionen zusehends zu sportlichen Übungen im Konzertsaal verkommen. Hier schlägt der Künstler Guttenberg einen plausiblen Bogen zwischen dem Komponisten Johann Sebastian Bach, dessen Kunst in ihrer im Religiösen wurzelnden Ursprünglichkeit einen Einblick verschaffen könnte in das Denken und Leben seiner Zeit, und der Begradigung des Baches, dessen einst natürlicher Verlauf die Gewachsenheit eines Dorfes, einer ganzen Landschaft bestimmte bzw. charakterisierte. Beide sind nach Guttenberg meist nicht mehr erkennbar in ihrer natürlichen Form. Stadt-Sein Nun hat sich ja einiges geändert in den letzten Jahren, was Landschaftsschutz betrifft. ‹Ökologische Erneuerung› nennt sich das, was auf einmal alle politischen Parteien erfunden haben wollen. Sicher, es werden Bäche wieder aus ihrem Beton-Streckbett herausgelassen, allenthalben legt man Biotope an, in Großstädten wird das endgültige Verkehrschaos produziert, indem man verkehrsberuhigte Zonen anlegt, an die sich kein Autofahrer hält — freie (Durch-)Fahrt und freies Parken für freie Bürger. Was also hat sich wirklich verändert? Letztendlich wird weitergemacht. Die Dezentralisierung wird trotz vielfältiger Proteste weiterhin betrieben. Wo vor 15 Jahren eine Straße geplant wurde, dort kommt auch eine hin. — Und die Dörfer selbst, in denen die Bürger mit gutem Beispiel vorangehen könnten? Eine fast zwölf Jahre alte Broschüre hat nach wie vor Gültigkeit. Dieter Wieland, ein geradezu messianischer Münchner Fernsehjournalist, hat sie 1978 (sic!) herausgegeben unter dem Titel Bauen und Bewahren auf dem Lande. Darin schreibt Wieland, der sich als vehementer Befürworter traditioneller ländlicher Bauweisen auszeichnet und dafür oft belächelt oder gar verunglimpft wird: «Von der Jungbäurin kam's wie eine Drohung. Sie würde nicht in ein altes Haus hineinheiraten.» Sie will, stellt Wieland fest, die Familie, also die Keimzelle des Staates, modern, also in einem Haus gedeihen sehen, das, auch heute noch, Spiegelbild ist der Wirtschaftswunderkultur der 50er Jahre, das so ausssieht: «[...] trübe Verpackungen im DIN-Format, zu hoch, zu kurz, zu laut, zu unruhig, zu kleinkariert und aufgedonnert mit Plastik, Glasbaustein und Aluminium. Sie wollen anders sein, neu, besser, komfortabler, sie wollen Stadt sein, Vorstadt immerhin, ein bißchen Film- und Fernsehkitsch dazu.» Nur zu gern wird beim Hausbau auf den Architekten verzichtet, der die Proportionen nunmal besser im Griff hat als der Maurermeister, der meist die Planung einreicht. Und bei der Baustoffwahl greift man allzu gerne auf die Angebote des Baustoffhandels zurück, der naturgemäß nichts anderes will, als Profit machen — und den macht er nunmal mit Materialien der Großserie (es gibt einen Baustoffe-Supermarkt namens Bauhaus). Und sollte ein Dorf mal nicht von häßlichen Bauwarzen und von aus dem Urlaub mitgebrachten Türmchen, Erkerchen und Bruchsteinkaminen verunziert sein, stürzt sich ein anderer Kopf der Industriehydra darauf: der des Fremdenverkehrs. Von ihm wird dann ein solcher Ort — unter dem Motto Unser Dorf soll schöner werden — herausgeputzt wie eine Puppenstube, wird präsentiert in einem Trachtenlook, der demjenigen, der zuhause seinen Gelsenkirchener Barock stehen hat, zwar gefallen mag, aber echte Tradition ebenso ad absurdum führt wie die Volksmusik-Sendung am Fernsehabend. Enoch zu Guttenbergs ästhetischer Brückenschlag zur Ökologie mag erzkonservativ erscheinen. Doch er war es schließlich, der die Absurdität aufzeigte, die zubetoniertes Geschichtsbewußtsein erzeugt. Denn konservativ läßt sich nunmal auch von der lateinischen Sprachwurzel ableiten: conservare gleich bewahren. Ähnlich argumentiert Bazon Brock, der auch nach landläufigem Sprachgebrauch äußerst schwer in die Lade ‹konservativ› abzulegen ist. In seinem Essay Was heißt Avantgarde auf deutsch nennt er das Neue «in dem Maße leistungsfähig, indem es uns zwingt, das angeblich Bekannte, Vertraute, Traditionelle und Alte mit neuen Augen zu sehen». Bereits 1982 äußerte er, daß die «großen, sensationellen Taten der nächsten zehn Jahre dort stattfinden, wo verhindert wird, daß etwas getan wird». Die Zeit der definitiven Entscheidungen sei vorüber. «Ein reflexiver Mensch weiß, daß Pläne, Utopien, Entwürfe dazu da sind, um zu verhindern, daß irgendein Realisat, etwas wirklich Durchgezogenes einen Wirkungsanspruch haben kann, der auf Wahrheit, auf Unwidersprechbarkeit, auf Endgültigkeit ausgerichtet ist.» Ware Arbeit Die Arbeitsplätze. Immer wieder heißt es, die Umweltschützer würde Arbeitsplätze vernichten. Dabei ist hinlänglich nachgewiesen, daß über den aktiven, hauptsächlich technischen Umweltschutz nicht ein Arbeitsplatz verloren geht. Viel eher könnte ein neuer Schub an Innovation in Richtung einer neuen, hochqualifizierten und darüber hinaus exportierbaren Technik entstehen. Und was die formalästhetische Frage anbelangt: Ist ein Atomkraftwerk ein schönerer Anblick als Windrotoren oder eine Anordnung von Solarkollektoren? Doch so wesentlich die Anwendung umweltschützender Technologie, genauer: Technik (denn Technologie ist die Technik-Forschung), also Weiterentwicklung und Produktion, ist: Die Gefahr, daß der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werden könnte, ist — im Wortsinn — ungeheuer groß. Im Bereich des Wohnungsbaus beispielsweise bedeutet erhöhter oder veränderter technischer Einsatz allein ja keineswegs die Zunahme ökologischer Qualität. Solange das Bruttosozialprodukt die heilige Kuh bleibt, solange die ökologische Rechnung nicht wirklich gestellt wird, also nicht die ökologisch relevanten Austauschbeziehungen zwischen wirtschaftlichem Unternehmen und Umwelt ins Licht der Öffentlichkeit kommen, bis in den letzten Winkel unseres Denkens, bleibt Umweltschutz Sisyphosarbeit.Tinnef Wieviel Arbeit, wieviel Freizeit, also wieviel Zweitkühlschränke, Dritt-Trimm-dich-Jogging-Anzüge aus Goretex und Viertfernsehgeräte benötigen wir denn? Wieviele Sonderangebote, also leichtfertig gekauften und nach (meist baldigem) Nichtgefallen schwierig zu (wie sich ein euphemistisches, von Politikern geprägtes Modewort abzeichnet) entsorgenden Sperr-Müll, also Überflüssigem aus dem Baumarkt, der sich, bezeichnend für unser Geschichts- und Geschmacksverständnis und mit seinem kleinteiligen, um nicht zu sagen kleingeistigen Ornamentsangebot völlig gegenläufig zur klaren Struktur dieses Mutterhauses der Vernunft-Form verhält, vielerorts Bauhaus nennt?! Wieviel hat denn die Industrie, der Handel seinerzeit bei den überall propagierten Zweitbremsleuchten innerhalb einer kürzesten Zeitspanne umgesetzt — 15 Millionen Mark. Da hat man den ewig Sicherheitsbedürftigen gewaltig auffahren lassen. Nach den Autoren des schweizerischen NAWU-Reports Wege aus der Wohlstandsfalle — Strategien gegen Arbeitslosigkeit und Umweltkrise (und mittlerweile anderen Untersuchungen) ist das «alte kapitalistische Idealbild einer fleißig vor sich hinproduzierenden, ständig nach Konsumausweitung gierenden Gesellschaft, welche die Steuerung des Wirtschaftsablaufes getrost und ohne Rücksicht auf soziale Kosten und ökologische Folgen den wirtschaftlichen Laisser-faire überlassen kann», erschüttert. Durch Konjunkturschwankungen heraufbeschworene Ängste seien leichter zu verkraften, «wenn die in der Rezession (und auch die wird wieder kommen) ‹brachliegende› Arbeitskraft für die Selbstversorgung der Familie mit Nahrungsmitteln und für die Vertiefung der mitmenschlichen Kommunikation genutzt werden könnte». — Und für die Freisetzung der schöpferischen Fähigkeiten ... An Joseph Beuys sei erinnert, den nur zu gerne mißverstandenen Künstler. Beuys hat nie gesagt, jeder Mensch sei ein Künstler; das ist die Wirklichkeit eines aus der Wahrheit gerissenen Halbsatzes. Beuys meinte allenfalls, der Mensch an sich sei kreativ. Und wie ernst es ihm mit einer von ihm immer wieder geforderten ästhetischen Erziehung war, belegt die Tatsache der von ihm gegründeten Freien Universität, in die er einen Großteil des von ihm verdienten Geldes hineinsteckte. Daß der Kunstmarkt zu seinen Lebzeiten verrückt spielte und sich, bezüglich seiner Arbeiten, heute schier überschlägt, darauf hatte er keinen Einfluß. Hier hatte und hat der Kunsthandel alleine Einfluß, genauer: diejenigen, denen oft jeglicher Zugang zu den Inhalten Beuysscher Kunst, oft zur Kunst überhaupt fehlt, die in der Kunst nichts anderes sehen als ein Spekulationsobjekt. Einfaches Glück — Heimat Im Zusammenhang mit den schöpferischen Fähigkeiten des Menschen fordern seit langem viele und immer mehr Architekten eine wesentlich gesteigerte Eigenbeteiligung des Bauherren an der Entstehung seiner ‹Behausung›, des eigenen Hauses. Allerdings ist das Ökologische Bauen an unseren Universitäten nach wie vor eine der ungeliebtesten Disziplinen. «Eine der schwierigsten Techniken», so Frei Otto, Professor für Architektur an der Technischen Universität Stuttgart «ist das primitive Bauen auf höchstem Wissensstand.» Der Planer (nicht etwa Günter Behnisch!) der Zeltüberdachung des Münchner Olympiastadions und sein Team beschäftigen sich seit langer Zeit mit Projekten dieser Art in afrikanischen Ländern, in England und Indien. Und auch andere, beispielsweise dem Deutschen Werkbund angehörende Architekten propagieren und praktizieren die Eigenbeteiligung der Bauherren an der Ausführung. Und das meint etwas anderes als das wochenendliche Auftürmen herkömmlicher Materialien nach der Nullachtfünfzehnplanung des örtlichen Kleinunternehmers. Es meint die aktive Teilnahme am Entstehungsprozeß. Wir können aus unserer Kultur, aus dem, was in Frankreich Civilisation genannt wird, nicht entfliehen. Wir können uns ihr nur stellen, sie durchschauen, gestalten, permanent verändern, den wirklichen Bedürfnissen unseres Lebens anpassen, Fehlentwicklungen korrigieren. Im anderen Fall vernichten wir sie, weil wir die Entscheidungen darüber aus der Hand geben. Die Gestaltung unserer Umwelt muß nach dem Prinzip Hoffnung vorgenommen werden. In Ernst Blochs Hauptwerk ist die Architektur, die Umweltgestaltung ein Punkt der Auseinandersetzung, ein Teil seines philosophischen Utopia'. Nach Bloch ist die Architektur ein «Produktionsversuch menschlicher Heimat». Heimat ist Blochs Gegenbegriff zu dem der Entfremdung. Die Symptome der Entfremdung führt Adolf Max Vogt in seinem Buch Architektur 1940 – 1980 auf die in steigendem Maße veränderte Arbeit durch den Industriekapitalismus mit der Folge der Umweltbedrohung zurück. Dadurch, daß der Arbeiter, vor allem der Fließbandarbeiter nichts Ganzes mehr herstelle, sondern nur noch endlos wiederholte Teile, trete eine Sinnentleerung ein: Arbeitsentfremdung. «Die Techniken», so Vogt, «verhalten sich zur Umwelt aggressiv — sie irritieren und unterbrechen die zyklischen Abläufe: Umweltentfremdung.» Bauen müsse deshalb sein oder endlich werden — und damit greift er Blochs Begriff auf — «ein Produktionsversuch menschlicher Heimat». Diesen Versuch zu starten, hieße aber das Goldene Kalb Bruttosozialprodukt vom Stahlbetonsockel unserer Gesellschaftsordnung zu stoßen. Es hieße: eine Verringerung des ständig postulierten Mehrwerts, und zwar sowohl über minder erbrachte Fremdarbeit als auch durch geringere Produktion seitens der Industrie. Kreativitätstherapie Doch die unterläßt nichts: Auch der letzte Heimwerker muß wieder heimgeholt werden ins heilige Reich der Umsatzsteigerung. Nach Meinung der Marktstrategen läßt Kreativität sich auch fördern, ohne daß der Konsumverweigerung Vorschub geleistet werden muß. Gedruckte Malvorlagen für Hummel-Figuren, ein riesiges Angebot vorgefertigter Basteleien im Kaufhaus-Design — schließlich ist das Geschenk am vom Handel okkupierten Weihnachtsfest auf diese Weise auch selbstfabriziert und der Kopf somit wieder frei für neue Konsumtaten. Es gilt weiter, auch die neueste Bohrmaschine, den Einmanntraktor für den zu mähenden 70 Quadratmeter großen Vorgartenrasen im selbstgebauten Schuppen zu haben. Der Wille zur Selbstgestaltung wird aus marktpolitischen Erwägungen kontinuierlich unterdrückt. Vorbestimmt wird eine private ästhetische Ordnung, die dem Reglement einer Religion unterliegt, die sich ‹freie Marktwirtschaft‹ nennt. Was dabei herauskommt, wird gemeinhin Geschmack genannt. Doch dieser Geschmack mag die Verhältnisse zunächst befriedigen, den Augenblick des Genusses verlängern, kann aber kein übergreifender Lösungsvorschlag sein. Die permanente Reizüberflutung durch Werbung trägt ihren Teil dazu bei, dem Mensch die Wege zu vernebeln, die ihn zur Selbsterkenntnis führen könnten. Die Möglichkeit, sich selbst zu erkennen, läuft aber den Standards wirtschaftlichen Funktionierens zuwider. Deshalb wird derjenige, der in seinem Erkennen ‹aufgerüttelt› ist, als in der Krise befindlich bezeichnet. Und wer nicht glauben will, daß auch er krisenanfällig ist, dem wird's von geschäftstüchtigen Buchautoren, selbsternannten Therapeuten und Gurus in einer speziellen, besonders perfiden Art von Umweltverschmutzung täglich aufs neue eingehämmert. Das Leben wird hingestellt als eine Abfolge von persönlichen Krisen, zu deren Überwindung zumindest der Erwerb des Buches von Autor X notwendig ist, besser noch die Teilnahme an der neu entwickelten Therapie des Doktor Y, der ‹kreativen›, transzendental-meditativen Gruppenarbeit eines vom Berg heruntergestiegenen Heiligen aus Indien oder der Lüneburger Heide. Männer und Frauen preisen sich in Bekanntschaftsanzeigen, auch in Zeitungen mit hohem intellektuellen Niveau, an als Steinböcke, die daran glauben, eine Zweierbeziehung könne nur dann funktionieren, wenn eine Jungfrau an ihrer Seite stehe oder liege. Und umgekehrt. Der Spezialist, der Experte, ohne den unsere Technologie unmöglich wäre, liegt seit Jahren auf der Couch des Therapeuten und gibt ihm einen Gutteil seines Spitzengehalts, auf daß ihm geholfen werde, den Streß am Arbeitsplatz zu ertragen. Jugendliche — und nicht nur die — suchen in der Hektik der Straßen ihren eigenen akustischen Raum, verschließen sich mittels Kopfhörer dem Medium Sprache, das ja eigentlich eines der Verständigung ist. Der Wille zur Erkenntnis unterliegt im Kampf gegen den normierten, uniformierten Geschmack. Verklärung Die Gesellschaft verzehrt sich in einer betulichen Vergangenheitssehnsucht, die kulminiert in Trödel, Ramsch und wirklichkeitsverstellenden, gigantomanischen Ausstellungen wie die über die Staufer, die Wittelsbacher, Tut-ench-amun oder die güldenen Eier von Fabergè. Und wer den Begriff Heimatfilm wie der Historiker und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ruppert dahingehend interpretiert, daß Heimat etwas mit der Geschichte einer Region zu tun hat, die einzig zur Selbsterkenntnis führen kann, der hat mit Anfeindungen zu rechnen. In seinem Film Naila. Leben und Arbeiten im Frankenwald hatte er sich weniger der modernen Errungenschaften dieser Kleinstadt angenommen und mehr der historischen Dokumente. Mit dem Resultat, auf erhebliche Proteste seitens ‹konservativer› Politiker zu stoßen, die sich lieber als ‹fortschrittlich› gespiegelt gesehen hätten. Ruppert ist auch der Schöpfer solcher Begriffe wie Industriekultur oder Erinnerungsarbeit. Erinnerungsarbeit — Geschichte und demokratische Identität in Deutschland ist auch der Titel des Buches, als dessen Herausgeber und Autor er auf einen besonderen Aspekt der Krise verweist, der im Zusammenhang steht mit der Praxis öffentlicher Geschichtsbewältigung. Ruppert fragt, ob Geschichte etwa eine kompensatorische Funktion übernommen habe, «die gerade von der gesellschaftlichen Wirklichkeit der achtziger Jahre, der neuen Existenzangst und individuell erfahrenen strukturellen Krise ablenkt. Während man in den fünfziger und sechziger Jahren die mit dem Nationalsozialismus belastete Vergangenheit zugunsten der einseitigen Betonung des industriellen Massenkonsums als Legitimation für die Gesellschaft der Bundesrepublik zu verdrängen suchte, dient Geschichte heute gewiß vielfach der Flucht, jedenfalls wenn sie zum Medium der Vorstellung einer heilen Welt wird. Die in den siebziger Jahren entstandene Mode der Nostalgie bedeutet Verklärung der Erinnerung. [...] Erinnerungsarbeit in der Geschichte von Lebenszusammenhängen muß über die bloße Nostalgie oder historische Requisitenschau hinausführen.» Als »historische Requisitenschau» ist sicherlich auch eine Stil-Richtung der Architektur zu bezeichnen, die nach Charles Jencks benannte Postmoderne, von ihm untertitelt mit «Radikaler Eklektizismus» — eine Architekturrichtung, die zwar von der Fachwelt theoretisch als ‹abgefeiert› gilt, jedoch in der Praxis in voller Blüte steht, und nicht nur, weil kommunale Planungen oft zwei Jahrzehnte überdauern. Unter der Postmoderne werden die unterschiedlichsten historischen Alternativen zusammengefaßt. In seinem Buch Die Sprache der postmodernen Architektur mißt Jencks der regionalistischen Architektur große Bedeutung bei. Nach ihm benutzt der Radikale Eklektizismus «im Unterschied zur modernen Architektur das volle Spektrum kommunikativer Mittel — metaphorische und symbolische ebenso wie räumliche und formale». Der Radikale Eklektizismus mische alle Stile und Subsysteme in einem Bauwerk. Architektur als Massenmedium? Architektur fürs Volk? Die Wissenschaftler Umberto Eco (identisch mit dem Romanautor) und Renato de Fusco zweifeln, zumindest unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen, an den Möglichkeiten der Architektur als Massenmedium. Drastischer ist die Absage der Architekten Maurice Culot und Leon Krier — wobei hinzuzufügen ist, daß Leon Krier von seinen Thesen abgewichen und mittlerweile ein heftiger Verfechter des historisierenden Bauens ist — an die Jenckssche Formulierung. In ihrem Aufsatz Der einzige Weg der Architektur stellen sie fest, daß «der provokatorische formale Eklektizismus [...], der seinen Höhepunkt in dem Kitsch findet, der jetzt schon alle Bereiche des Lebens und der Kultur beherrscht und das wichtigste kulturelle Phänomen der industriellen Zivilisation darstellt». Und der Architekturhistoriker Frank Werner ist in seinem 1981 erschienenen Buch Die vergeudete Moderne der Meinung, die Postmodernismusideologie entpuppe sich auf Dauer als neuer gesellschaftlicher Konservativismus. Wobei jener Konservativismus gemeint ist, der einer Popularästhetik das Wort redet, das unter der Flagge Geschmack fährt. Bei aller berechtigten Kritik stellt sich dennoch die Frage, ob die Architekturkritik der letzten Jahre dieses nachmoderne Bauen nicht vorschnell in die Ecke der allein historisierenden Architektur gedrängt hat? Natürlich gibt es sie, die schwachen Talente, die unter der Ägide des Postmodernismus (der ja nicht nur eine Architekturrichtung ist — ursprünglich ohnehin aus der Literaturwissenschaft stammend — sondern sich in anderen Bereichen ebenso artikuliert) oder des Neuen Regionalismus Schutz suchen. Viele, sehr viele Architekten haben sich mitreißen lassen vom Sog dieser systemimmanenten Architekturdoktrin, die Beton einsetzt wie eh und je, ihn jedoch mit Marmor- oder Sandsteinplatten zuhängt, je nach Region und Gusto des Bauherrn. Und nicht wenige verstecken sich hinter nicht verstandenen Bauformen — und verdienen nicht schlecht dabei. Veränderungen Neuer Historismus — und wir leben mittendrin — sollte auf jeden Fall aufhorchen lassen. Schon immer signalisierte er viel weniger die Sehnsucht nach Vergangenheit als vielmehr einen Versuch, aus dieser auszubrechen. Als Beleg hierfür mag die Architektur- und Kunsttheorie von Leon Battista Alberti gelten. Sie brachte in der Mitte des 15. Jahrhunderts das gesamte mittelalterliche System ins Wanken. Seine Idee eliminierte den göttlichen Maßstab, schuf die Basis für eine Vorstellung von einer befreiten Welt. Damit geriet sie zunächst in einen Konflikt mit der bestehenden Machtorganisation. Wobei ihr nicht erspart blieb, in den Dienst wiederum neuer Machtausübung genommen zu werden. Die in der Kunst aufgegangene Renaissance-Idee, nach der der Mensch zur Größe fähig und frei sei, wurde von den Machthabern dieser Zeit, allen voran die Medici, gepriesen und für sich in Anspruch genommen. Kunsterzeugnisse waren demnach nicht mehr Kommunikationsmittel einer zusammenhängenden Gesellschaft, sondern Repräsentationsinstrument vorhandener Macht. Zwangsläufig mußte dagegen eine Opposition entstehen. Eine neuerliche Weltsicht brach durch. Zum Kompendium eines neuen Verständnisisses ward, im 18. Jahrhundert, die Encyclopaedie von Diderot, d'Alembert und anderen, unter ihnen Rousseau. Es war die Zeit der französischen Aufklärung. Jedes nicht aus der Natur abgeleitete, sondern auf Forderungen menschlicher Autorität — gemeint war die Autorität der Herrschenden — beruhende System wurde als schändlich gekennzeichnet. Die reine Vernunft wurde zum Maß aller Dinge. Der französische Jesuit Marc-Antoine Laugier, ein einflußreicher Theoretiker dieser Zeit, brachte den Glauben auf die Formel: «Laßt uns nicht in falschem Glanze schwelgen; es zeigt das Fehlen von Genie. Laßt uns einfach und natürlich bleiben; das ist der einzige Weg zur Schönheit.» Das war eine klare Kampfansage — sicherlich auch an das Ornament (das ohnehin orientalen Ursprungs ist). Es hatte seine Funktion als Kommunikationsträger verloren und wurde nunmehr als Zeichenträger der Macht verstanden. Alles andere hatte den Ruch der Restauration. Ist demnach unsere heutige, mittlerweile ausufernde Hinwendung zur historischen, demnach historisierenden Form in Architektur und Kunst der Versuch, sie auch optisch zu verbrauchen, sie als Bedeutungsträger auszuschalten? Oder ist es der Versuch — in einer Zeit, in der wie nie zuvor auch optische Formen zu Verbrauchs- und Wegwerfprodukten degeneriert werden —, solche ‹Elemente» europäischer Geschichte wie Giebel, Säule et cetera im Widerstand gegen die Konsumideologie festzumachen? Soll Dauer, Beständigkeit und der Wille zu einer in ihrer Geschwindigkeit reduzierten evolutionären menschlichen Entwicklung signalisiert werden? — Da wäre der gehobene Landhausstil in ländlichen Gebieten oder die industrielle Fertigung von Fensterläden. Letztere werden beispielsweise in Oberbayern per Gestaltungssatzung gefordert und — angenagelt. In weiten Teilen der Bevölkerung ist der Fortschrittsglaube ungebrochen. Nicht nur das — er wird nachgerade geschürt. Längst hat die Glorifizierung der Anfänge des Maschinenzeitalters ‹Tradition›. Das meint nicht die von Wolfgang Ruppert Archäologie der Industriekultur genannten notwendigen Versuche, industrielle Entwicklung aus der Perspektive des Grases, also der des Arbeiters zu zeigen, Lebensgeschichten nachzuvollziehen. Gemeint ist die Perspektive der Burg, die Bemühungen, aus der Geschichte der Industrie- und somit der Arbeiterkultur ein Repräsentationsinstrument wirtschaftlicher Macht entstehen zu lassen. Wo anstrengende historische Wirklichkeit dokumentiert werden soll, wird sie, wie in diesen gigantomanischen Ausstellungen, feierlich und geschmäcklerisch zudekoriert, wird nur noch die Schönheit der Form präsentiert. Selbstredend zieht die Industrie mit und bietet der postindustriellen Gesellschaft High-technical-Accessoires für Haus und Garten an — Technikgeschichte im Trachtenlook. Historischer Kontext Es wird immer weniger gestaltet und zunehmend mehr verkleidet. Das Ornament ist zur Dekoration verkommen. Beton wird zugehängt mit unreflektierter Erinnerung. Der technische Vorgang wird nicht mehr mit ästhetischen Mitteln verstehbar gemacht. Ästhetik als Medium des Menschen, Zusammenhänge geistig (und somit sich selbst) zu erfahren, ist zu einem Objektivierungsmittel für eine kleine Minderheit geworden. Die sitzt im Glashaus und nimmt am aktiven politischen Leben nicht mehr teil. Die Freiheit der Kunst ist nur noch ein speakers corner im gesellschaftlichen Hide-Park. Dort darf der Künstler toben, weil er keine Wirkung zeigt. Seine Sprache wird vom Rezipienten nicht mehr verstanden, weil — unter anderem — die Kunsterziehung (welch ein Begriff!) sich laut curricularen Befehlen im Malen von sogenannter Wirklichkeit erschöpft. Den Betrachter lehrt man, die Oberfläche zu ‹genießen›. Künstlerische Gestaltung als Möglichkeit zur Problemdeutung (auch ein immaterielles, ein physikalisches oder ein geometrisches Problem kann ein künstlerisches sein) kann er nicht mehr erfahren. Die Sprache der Kunst begegnet ihm nur noch als Kunstsprache — im Ausstellungskatalog, abstrakt und ihm unverständlich. Und ihre Rückübersetzung durch eine verharmlosende Populär-‹Wissenschaft› verbrämt mehr, als daß sie Inhalte verdeutlicht. Die Kunst hat eine dem Gesellschaftssystem innewohnende Ex- und Hoppfunktion. Sie wird konsumiert übermonumentale Zusammenschauen von Exponaten, die ihrem historischen Kontext entrissen und so zu Amputaten wurden. Unser Verhältnis und unser Verhalten zur Umwelt ist das Ergebnis eines historischen Prozesses. Der Mensch ist nicht genetisch spezialisiert, er ist, um einen Begriff von Arnold Gehlen zu verwenden, auf das «Nichtspezialisiertsein spezialisiert». Demnach ist er ungebunden in seiner Aufmerksamkeit, er kann frei entscheiden. Allerdings kann er nur eine sowohl räumlich als auch zeitlich begrenzte Anzahl sinnlicher Erfahrungen machen bzw. verarbeiten. Aus diesem Grund war der Mensch von jeher gezwungen, sich Systemen der Beschränkung aufzuerlegen, die der Ordnung und der Förderung der Wahrnehmung dienen. Vielleicht ist es gerade unserem abendländischen Kulturkreis vorbehalten geblieben, innerhalb dieser Systeme die Aufmerksamkeit auf die Materialität der Dinge zu richten, ist doch die geistige Tätigkeit in abendländischen Sprachen verbildlicht in Begriffen wie: erfassen, begreifen, ein Problem einkreisen und so weiter. Europäische Religion, europäische Kunst und europäische Zivilisation sind in gleichem Maße von einer eigenartigen Ungeduld gekennzeichnet. Alles drängt darin nach Taten, nach Realisieren, nach Bewältigen. Darin enthalten ist ein Dynamismus des Geistes, der sich zunehmend verselbständigt. Mit dem Resultat, daß immer mehr Menschen keine andere Möglichkeit mehr sehen als entweder sentimental entgegenzusteuern oder aber sich in neue Heilslehren zu flüchten. Doch eine neue, andere Generation hat begonnen, neue Fragen nach Sinn und Sein zu stellen. Gefragt ist wider die überschaubare Welt des einzelnen. George Orwells Big Brother, sein 1984, ist uns längst zu nahe, hat uns bereits eingeholt. Deshalb bedeutet den meisten Menschen die Dezentralisierung, die Rückkehr zum kleinen geschlossenen Kreislauf weniger neurotische Idyllisierung als neue Werterkenntnis. Dabei sind «protestierende Laien», wie Otto Ulrich in seinem Buch Technik und Herrschaft schreibt, «einem neu zu bestimmenden Wahrheitskriterium weit näher als die gegen sie zur Beruhigung eingesetzten bornierten Experten». Dennoch gilt es, neuen ideologischen Unwettern, wie auch immer sie sich nennen mögen, zu entgehen, einer neuen Heilslehre möglicherweise, die zur Volksreligion ausgerufen wird. Nicht geschehen darf, was Hermann Glaser schon 1973 in seinem, den Provinzialismus behandelnden Buch Der Gartenzwerg in der Boutique die «Betäubung des Logos zugunsten des Mythos» genannt hat. Diesem Aufsatz zugrunde liegt eine Hörfunkssendung (mit Hellmuth Zwecker) des Westdeutschen Rundfunks, Redaktion Kultur und Wissenschaft, die am 7. Februar 1983 um 21.00 Uhr über WDR III ausgestrahlt wurde. Für einen Vortrag, der die Basis des obenstehenden Textes bildet, an der Münchner Akademie der Bildenden Künste am 13. Dezember 1983 und nachfolgend an weiteren Institutionen (veröffentlicht unter ISBN 392866900) wurde allerdings wesentlich von der Urfassung abgewichen.
Kulturbollwerk Es war eine Schwerstgeburt, eine auf Raten sozusagen. Nach mehr als einem Jahrzehnt Planungs- und Bauzeit, nach der Eröffnung der Philharmonie, hat das Münchner Kulturzentrum Gasteig endgültig das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Nomen est omen: Der gache Steig ist ein steil ansteigender Weg (am Ufer der Isar). Mehr als steil in die Höhe ging es auch mit dem Preis für dieses Kulturbollwerk. Einst mit 120 Millionen veranschlagt, hat die Kultur-«Reichskanzlei» jetzt tatsächlich über 370 Millionen verschlungen. Nun ist es müßig, über den Preis für gute Architektur zu streiten. Vor allem dann, wenn sie sich als ein demokratisches Gebilde versteht, das als Bereicherung eines Stadtbildes gesehen sein will. Und noch weniger kann eine Schuldzuweisung an die Architekten (Raue, Rollenhagen, Lindernann, Grossmann) wegen der Kostenexplosion ausgesprochen werden, wenn man weiß, wie viel Neuerungen und Änderungen das Team nachträglich, während bereits gebaut wurde, zu bewerkstelligen hatte. Nur läßt sich hier von einer Bereicherung nicht sprechen. Stellvertretend für viele schimpfte Peter M. Bode in der Münchner Abendzeitung. «Je mehr Gerüste an Münchens Umstrittensten Mammut-Bau fallen, um so deutlicher zeigt sich die Gestaltungsschwäche der Architekten, die ihrer Aufgabe offensichtlich nicht gewachsen waren.» Tatsächlich erinnert dieser «bedrückende Koloß» (Bode) eher an ein Kaufhaus mit «repräsentativem Charakter», dessen Architekten es zur Auflage gemacht wurde, es so zu planen, daß die Bevölkerung im Falle eines Fliegerangriffs darin Zuflucht finden kann. Keine noch so mutwillig mißverstandene Moderne in ihrer Klobigkeit, keine noch so von falschem Pathos triefende Postmoderne mit ihrem irrwitzigen Zuckerbäcker-Habitus vermag einern Stadtbild das anzutun, was diese Tempel-Architektur an Verunstaltung leistet. Den 445.000 Kubikmetern umbauten Raums, gefertigt aus 70.000 Kubikmetern Beton, verblendet mit eigens angefertigten, sogenannten handgeschlagenen Ziegeln (die handelsüblichen hätten es allerdings noch schlimmer gemacht), fehlen wirklich nur noch die Schießscharten ... Dieses Kulturzentrum ist eine falsch inszenierte Operette, die dieses unsäglich verlogene «Doch wie's da drinnen aussieht, geht niemanden was an» verifiziert. Tatsächlich ist man sich im Inneren des Gebäudes nie sicher, ob man sich nun in einem Großlager für Särge, in einem Verwaltungsgebäude eines Bankriesen oder in einem Konsumtempel vom Zuschnitt Bloomingdale's befindet. Da wäre die Eingangshalle, die vor allem zur Stadtbibtiothek führt. Sie sollte doch tatsächlich von vornherein den Charakter einer «Kathedrale» haben, wie Architekt Eike Rollenhagen verlauten ließ. Auch was die Bibliothek betrifft, müssen die Baumeister einer Verwechslung unterlegen sein: Beabsichtigt war eine städtische und nicht etwa eine Universitätsbibliothek. In dieser Dämmerungsarchitektur herrscht jene Grabesstille, die der angehende Akademiker für seine Studien braucht (der schaut dann auch nicht mehr auf die Möblierung im Kaufhausdesign). Im Lesesaal macht sich jene Beklemmung breit, die das Bedeutungsschwangere der Bildung aus den Kellern wilhelminisch-spießbürgerlicher Muffigkeit hervorholt. Und auch die mickrige Cafeteria im Untergeschoß ist nicht dazu angetan, Kultur-Fröhlichkeit aufkommen zu lassen. Richtig, die Bibliothek ist in hohem Maße frequentiert. Da dürfte jedoch weniger die Architektur zur Animation beigetragen haben als vielmehr das Angebot beziehungsweise die Tatsache, daß die alte, benutzerfreundliche Bücherstube am Wiener Platz im Zuge der Fortschreibung des Projektes Gasteig eliminiert wird. Sicher, die Idee war (und ist) gut, ist demokratisch: Hoch- und Niederkultur unter einem Dach vereinen zu wollen. Unbestritten hat das Richard-Strauß-Konservaterium neue Räume gebraucht, ging den Münchnem seit langem ein Konzertsaal von der Größe und Güte dieser Philhamonie ab. Warum sollen nicht akademische Leistungen Wand an Wand mit den Weiterbildungsangeboten einer Volkshochschule existieren?! Aber doch nicht in einer solchen Dunkelkammer von Sakralarchitektur. Wozu, stellt sich die Frage, haben eigentlich jahrzehntelang Baumeister darüber nachgedacht, wie man den Begriff Kultur architektonisch mit Helligkeit durchfluten kann, wenn hier wieder das Anstrengungswürdige und Erhabene zelebriert wird? Es ist ein Unding, daß die Verantwortlichen sich jetzt gegenseitig auf die Schulter klopfen mit der Begründung, das Kuturzentrum Gasteig funktioniere. Das haben Tempel immer getan. Veröffentlicht unter dem Titel Da fehlen nur noch die Schießscharten in: Vorwärts Nr. 47, 16. November 1985, S. 21
Zitatenschatz Neue Staatsgalerie Stuttgart Den Anfang der restaurativen Architektur im heutigen Museumsbau machte Alexander von Branca mit seiner Münchner Neuen Pinakothek, einem Kunsttempel mit Burgcharakter. Ihm folgte Hans Hollein, der das Mönchengladbacher Museum Abteiberg zwar weniger pathetisch, dennoch theatralisch genug inszenierte. Und die jetzt, nach siebenjähriger Planungs- und Bauzeit, eröffnete Stuttgarter Staatsgalerie des britischen Architekten James Stirling läßt endgültig die Hoffnung dahinfahren, das rational-transparente Element könne (wieder) Einzug halten in die bundesdeutsche Museumslandschaft: Mit der Neuen Staatsgalerie wurde, wenngleich nicht ungeschickt, eine der erstaunlichsten Sammlungen moderner Kunst zelebrierend verpackt. Der erste Anblick der 90-Millionen-Mark-Immobilie löst den Gedanken an eine antike Tragikomödie aus, inszeniert von einem Dorfschullehrer, der mal was von Peter Zadek gesehen hat. Gegenüber anderen Kulturgebäuden mit Lagerhallencharakter, von diesen auf Distanz gehalten durch eine sechsspurige Hymne an den Individualverkehr, hat der an Farben und Materialien gar nicht geizige Schotte eine architektonische Skulptur in einen Hang gesetzt, in der Formensprache angesiedelt zwischen einem überdimensionalen Sarkophag und einem zum Schleppkahn mißratenen Ocean-Liner. Zusammengehalten werden die 2.000 Kubikmeter umbauten Raums aus Beton von einer vorgesetzten Fassade aus Naturstein. Die darangesetzten popfarbigen High-tech-Mätzchen haben wohl den Sinn, dieser Theaterkulisse etwas von ihrer Gewalttätigkeit zu nehmen beziehungsweise dem Besucher zu suggerieren, er begäbe sich jetzt auf einen Spielplatz. Bevor sich diese neueste bundesdeutsche Kunsthülle entgültig als Kultstätte vermittelt, verabreicht Stirling erst noch einmal eine Beruhigungspille in Form der Eingangshalle. In ihr trifft das durch die geschwungene und gerasterte Fensterfront einfallende Licht auf einen leuchtend grünen Gumminoppenboden, hier wird man gewahr, daß der mehr als wohlbeleibte Architekt auch tänzeln kann. Komplettiert wird diese Beschwingtheit durch das zunächst einzige Kunstwerk: Duane Hansons Putzfrau sitzt in der Ecke — wie übriggeblieben vom Premierereinemachen. Verziert wird dieser Vorhof zum Rückschritt noch von einem nett anzuschauenden lichtdurchwirkten Kassenrund mit einem Tresen aus Kirschholz, bervor's dann im banal grellen, historischen Skulpturenhof endgültig dunkel wird um die jahrzehntelangen Bemühungen aufklärerischer Architekten, die Museumsschwellen zu senken. Stirling hat die ‹würdevolle› Feierlichkeit am Eingang sein lassen und einfach nach innen verlegt. In diesem edlen Innenhof muß der Besucher das Gefühl bekommen, das Bedeutungsschwangere müsse ihm jeden Augenblick auf den Kopf fallen. Wer sich dann absatzknallend aus dieser Kulturopferstätte geflüchtet hat, hat die Erholung, die die oberen Galerieräume (zunächst) bieten, auch verdient. Angenehm gegliedert und gereiht präsentieren sie sich, das von oben einfallende, durch leicht milchiges Glas gefilterte Naturlicht verträgt sich gut mit der künstlichen Beleuchtung. All die Picassos, Schlemmers oder Beuys' verschaffen sich eindrucksvoll Geltung in diesen neutralen Räumen. Doch dann, es wär' so schön gewesen, geben es die innenarchitektonischen Details preis: Konsequenz, Klarheit ist des Briten Sache nicht. Was er unten beim Entrée (listig?) vermieden hat, Portalatmosphäre nämlich, wird oben, aus Holz und weiß gestrichen, an jeden Saaleingang geklebt: Herr Winckelmann und dessen Baumeister Schinkel, deren Klassizismus lassen schön grüßen. Vollends zur Bildungstümelei gerät, was wohl als Appell an das Traditionsbewußtsein gemeint ist: knapp einen Meter lange ‹Bruchstücke› ägyptischer Tempelgesimse in den Übergängen von den Wänden zu den Decken — Versatzstücke alter Baukultur aus dem Warenhaus. Überhaupt ist dieses Museum, das aktuellste Kunst beherbergt und selbst (zwanghaft) Kunstwerk sein will, ein einziger Zitatenschatz — ein Nachschlagewerk der Architekturgeschichte. Überall wird nachgeäfft, was mal Geschichte gemacht hat. Wenn das, was dieser Radikale (Eklektizist) Stirling alles unter einen Hut gebracht hat, richtungsweisend wird, wird wohl bald, auch gesellschaftspolitisch, das Mittelalter eingeläutet werden. Schweizer Radio DRS, Kulturmagazin Reflexe; Vorwärts Nr. 14, 29. März 1984, S. 26
Der Blonde mit der großen Klappe Was im zarten Alter von 16 Jahren mit Lyrik begann, soll drei Jahrzehnte später auf der obersten Sprosse bundesdeutscher TV-Showmeisterei enden. Dann nämlich, stellt sich Thomas Gottschalk vor, könnte aus dem Sonnyboy ein Kuli der Femsehnation geworden sein. Ein gut Teil des Weges hat der jetzt 30jährige schon geschafft: Seit Faschingsdienstag ist Gottschalk mit seinen Telespielen im Abendprogramm der ARD gelandet. Zuvor hatte er die unterhaltsame «45-Minuten-Kiste» (Gottschalk) bereits erfolgreich im dritten TV-Programm des Bayerischen Rundfunks moderiert. Zum erstenmal im Rampenlicht stand der gebürtige Bamberger 1965 beim Schlesiertreffen in Kulmbach, wo sich die Eltern mit Landsleuten trafen. Da hat Tommy Gedichte aufgesagt. Zu Hause hörte er allerdings lieber «unheimlich viel Radio», meistens RIAS Berlin und BBC London. Nicht verwunderlich, daß er es bei diesem Zeitvertreib auf zwei Ehrenrunden am humanistischen Markgraf-Georg-Friedrich-Gymnasium brachte, zumal er nach eigener Einschätzung in allen naturwissenschaftlichen Fächern «furchtbar dämlich» war. Nur in Deutsch lag er überm Durchschnitt. Häufig kommentierten die Lehrer seine Aufsätze so: «Sie verstehen es ausgezeichnet, weitgehende gedankliche Leere durch sprachliche Stärke zu verdecken» — eine Fähigkeit, von der sich die Bayern noch heute täglich in der Gottschalk-Sendung Pop nach acht überzeugen können. Auf jeden Fall half dem einszwoundneunzig langen Blonden mit der großen Klappe seine Beredsamkeit auf die zweite Sprosse. 1971 bewarb sich Gottschalk beim Bayerischen Rundfunk, dessen Junge Welle einen Diskjockey-Wettbewerb veranstaltet hatte. Mutig schrieb er auf den öffentlich-rechtlichen Vordruck: «Man merkt es Euren Diskjockeys an, daß Ihr sie per Fragebogen sucht.» Sie haben ihn aber trotzdem genommen — beim Jugendfunk. Bald wurde es dem Jungredakteur jedoch zu blöd, Nachrichten und Programmhinweise zu verlesen und zu sagen: «Jetzt schauen wir für Sie auf die Studiouhr ...» Er sagte lieber: «Jungs, es ist fünf nach acht.» Und damit war's für ihn Pop nach acht. Und Zeit für die ARD, ihm dafür den Kurt-Magnus-Preis zur Förderung journalistischen Nachwuchses zu verleihen. Schließlich kamen Gottschalk die Plattensprüche so locker über die Lippen, daß auch das Fernsehen aufmerksam wurde: Der Bayerische Rundfunk engagierte ihn für die Teenybopper-Sendung Szene 77 im dritten Programm. Daß er jetzt populär ist, findet er vor allem anstrengend. Heute versteht Gottschalk die Leute, die sich im Münchner Nobelviertel Grünwald «hinter einer Hecke verschanzen». Obwohl er das eigentlich immer noch beknackt findet. Genauso wie bei beruflichen Einsätzen einen Mercedes zu fahren. Den stellt er vor Gastspielen in Diskotheken immer eine Ecke weiter ab. Fürs Private hat er einen Morgan und eine Wohnung hoch oben über den Dächern von Münchens neuem In-Viertel, dem Lehel. Und eine Ehefrau («keine Karrierefrau» übrigens). Wenn's die nicht gäbe? Dann wäre er «wahrscheinlich nur ein unzufriedener Diskotheken-Schisser». Zukunftängste kennt er nicht. Er geht auf Nummer Sicher. Schließlich will er ja der Kuli der neunziger Jahre werden. Playboy 3.1980, S. 217, Mann im Gespräch
Mit Angst vorm Publikumserfolg München hat die größte deutsche Privattheater-Szene, so war das jedenfalls in den Siebzigern und auch noch später — ein Rückblick auf die Spielereien der Saison des Jahres 1980. Das Münchner Privattheater ist brav und langweilig, ist lasch, kraftlos und saftlos geworden. Kein Risiko mehr, keine Sinnlichkeit, niemandem weh tun, die Zuschauer möglichst einlullen. Es gibt keine Verrisse mehr, kaum noch Eklats, kaum noch fliegen die Fetzen. Es hat sich alles eingependelt auf ein wohlanständiges Maß an Neuheit. Diese gar nicht ‹wohlanständige› Meinung ist die von Mathias Eysen, jemand, der sich auskennt in der Münchner Privattheaterszene: Er leitete von 1968 bis 1972 das Schauspiel München, an dem Regisseure wie Jürgen Flimm, Andreas Fricsay oder Gerd Pfafferoth inszenierten und andere Theaterkoryphäen wie Otto Sander oder Benjamin Henrichs darstellerisch oder dramaturgisch mitarbeiteten. So will denn der Schauspieler und Regisseur Mathias Eysen aus der Not eine Tugend machen, dem Münchner (Theater-)Maß die Wohlanständigkeit nehmen, mit den Brettern, die (vor allem in München) so vielen die Welt bedeuten, eine neue Bühne zimmern — wieder selber machen. Gedränge am Subventionstopf Vorausgesetzt, er würde ein festes Haus beziehen können, wäre dies dann eines von mehr als 30 Klein- und Kleinsttheatern der bayerischen Metropole; keine andere bundesdeutsche Großstadt bietet (quantitativ) mehr. Welche Fachleute man auch immer befragt, keiner weiß so recht, warum in München so viel Theater gemacht wird. Und die Zahl derer, die sich um den Subventionstopf versammeln, die auch was abkriegen wollen von der barmherzig anmutenden Million pro Jahr, vermehren sich zusehends. Wilfried Passow, akademischer Oberrat am theaterwissenschafttichen Institut und gewählter Vertrauensmann der Privattheater im sechsköpfigen Beratergremium für die Vergabe von Zuschüssen, sieht dieses Frühlingserwachen in dem Humus, der München für Theater darstellt. Die Zusammensetzung dieses Nährbodens erklärt sich in erster Linie in der Attraktivität der Stadt für Schauspieler; pausenlos wird hier produziert: Film, Fernsehen, und eben Theater. Die Stadt mit dem ‹hohen Freizeitwert› ist ein Auffangbecken vor allem für junge, meist gerade von den Schauspielschulen kommende Akteure. Und es ist immer noch besser, an einem Mini-Theater zu spielen als an gar keinem Theater. Es gibt zwar kein (oder nur sehr wenig) Geld, dafür aber Presse. Vor allem die beiden Münchner Boulevard-Zeitungen AZ und TZ schwärmen hier allabendlich aus, und auch die Süddeutsche Zeitung beteiligt sich rege an diesem permanenten theatralischen Wettkampf. Und die Zahl der Regisseure, die im «Millionendorf» zumindest einen Zweitwohnsitz haben, ist nicht minder beträchtlich. Dem provokativ gemeinten Adjektiv ‹wohlanständig› von Mathias Eysen ist indes nur bedingt zu widersprechen. Der von der Literatur geprägte 8egriff Neue Innerlichkeit trifft auf die meisten der Münchner Privatbühnen zu. Die Programmpolitik dieser Theater spiegelt im wesentlichen das, was man hierzulande Volksempfinden nennt, und das Volk empfindet zur Zeit nunmal in erster Linie sich selbst, betreibt Vergangenheitsbewältigung. Aber das ist kein Blick zurück im Zorn, es ist in erster Linie Identitätssuche. Die Auseinandersetzung findet kaum mehr im formalen Bereich statt, gut zwei Drittel der ‹führenden› Privattheater holen sich ihre Impulse aus dem kleinen Kammerspiel. Diejenigen, die den großen institutionalisierten Häusern Impulse geben, sind in der Minderzahl. Und das Münchner, (noch) überwiegend jüngere Publikum nimmt dankbar an und geht wieder mehr ins (Privat-)Theater. Der Trend zur publikumsorientierten Programmpolitik wird forciert durch die Subventionspolitik der Münchner Ratsherren. In dem von der CSU nach der Rathausübernahme 1978 erstellten ‹Kriterienkatalog› — von Passow allerdings als «fern der Realität» bezeichnet — wird eine Förderungswürdigkeit in Punkt 3 von der «Anzahl der Aufführungen pro Jahr» und in Punkt 5 von der «Anzahl der Sitzplatze und ihre Auslastung» abhängig gemacht. Demnach bekommt der, der ohnehin schon hat — mehr Zuschauer, ergo mehr Geld. Alexeij Sagerer vom Prozessionstheater (ProT) kommentierte das in der für ihn (theater-)typischen Art: Entweder «Ein Theater hat viele Sitzplätze, aber ganz wenig Besucher, es braucht also ganz viele Subventionen, um die vielen Sitzplätze finanzieren zu können; oder: Ein großes Theater kriegt mehr Subventionen als ein kleines Theater, weil ein großes Theater etwas größeres ist als ein kleines Theater und der Unterschied durch die Subventionen noch verdeutlicht werden soll.» Sagerers ProT, dem alten bayerischen Theaterspiel verschrieben, bekam 1979 45.000 DM. Fast möchte man meinen, er bekäme deshalb so ‹viel›, weil das Exotische etwas ist, das man nicht kennt und man deshalb so viel Geld dafür ausgibt. Dabei (und da setzt Erstaunen über die ‹Konsequenz› der Forderung ein) ist das ProT in der Schwabinger Isabellastraße ein Winzling zwar an Theater, gleichwohl Sagerer keiner, wenn es darum geht, denen da oben (aber auch denen da unten!) ihre politischen Aussagen und Taten aufzurechnen. Aber der gebürtige Niederbayer tut das so verquer, daß man schon sehr konzentriert in sein Theater gehen (und zuhören) muß, um nicht einfach nur darüber lachen zu müssen, es eben auch verstehen zu können. Aber mit der Beurteilung künstlerischer Leistungen tun sich die Münchner (Kultur-)Politiker insofern nicht schwer, als in seltensten Fällen einer aus ihren Reihen die Pforten dieser gar nicht so heil'gen Hallen durchschreitet. Sogar Hellmuth Duna, Leiter des (nicht subventionierten) T(h)eater in der Briennerstraße, der sich in seinem Boulevardtheater mit Jean Anouilhs Colombe oder Die weiße Taube «übernommen» hat, weil seiner Meinung nach «für das Münchner Publikum zu anspruchsvoll», klagt's: «Sie gehen ja nicht ins Theater, die Politiker.» Keine Zeit, hieße es meist, aber immer wieder lese man in den Zeitungen, daß sie mal wieder beim Starkbieranstich eine führende Rolle gespielt hätten. «Und bei einem Galaabend in der Nationaloper, natürlich ...» Die Privaten arbeiten billiger So stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die 200.000 DM verteilt werden, die dem Subventionstopf von einer Million vorab für «besondere künstlerische Leistungen» entnommen werden. (Dabei ist ein subventionierter Privattheatersitzplatz um einiges billiger als einer im Stadt-, Staats und Landestheater; die kleinen kosten im Schnitt fünf, die großen 65 Mark pro Jahr.) Eine der kleinen Bühnen, die ihrer politischen Denkart gemäß immer wieder anecken und deshalb regelmäßig das große Subventionszittern bekommen, ist das Theater k in der Schwabinger Kurfürstenstraße. Dabei steht das k keineswegs für ‹kommunistisch›, wie viele schlicht Informierte meinen. Es steht, so Wolfgang Anraths, für das k-ollektiv, das er leitet, und zwar organisatorisch. Mit Kinder- und Jugendstücken immer wieder auf Tournee, ist das Theater k längst ein Begriff über die Grenzen Bayerns und auch der Bundesrepublik Deutschland hinaus geworden. Aktuelles politisches Theater ist der Schwerpunkt des Programms, etwa (zunächst parallel zum Schriftstellerkongreß) das Programm Dichter zwischen Krieg und Frieden, eine Collage aus Texten von Ernst Toller, Johannes R. Becher und Heinrich Mann. Ebenfalls «Theater in sozialer Verantwortung» macht das Theater in der Kreide, kurz TIK genannt. Seit 1975 verfügt die 1973 gegründete Truppe über ein festes Haus — weit draußen am südlichen Stadtrand Münchens, in der Satellitenstadt Neu-Perlach. Dorthin wollte man nämlich Theater tragen: Von Shakespeare bis Brecht, von Revuen bis selbstgeschriebenen Stücken. Die vorletzte Produktion, Brechts Dreigroschenoper brachte einen «fatalen» Erfolg. Nachdem gar in Pariser Zeitungen Lobeshymnen gesungen wurden, tauchten in Neu-Perlach, so Joachim Hall vom Fünfer-Direktorium, «die Nerzjäckchen und Abendkleider auf». Ein Jahr lang wurde die Dreigroschenoper en suite gespielt, und das ist es nicht, was das TIK will: en suite spielen. Neue Stücke müssen her. Ähnlich ging es dem Theater am Sozialamt (TamS). Das Problem ‹neues Publikum› formulierte Anette Spola so: Sie sei ja sehr erfreut über das auf Monate hinaus ausverkaufte Stück Stan und Ollie in Deutschland (das Urs Widmer für das TamS schrieb, mittlerweile von drei großen Bühnen übernommen), aber das Stammpublikum bliebe draußen, das nämlich bestelle nicht vor. Das fünfte Rad an diesem Thespiskarren ist das Freie Theater München. Kaum ein berühmtes Festival, das diese Truppe noch nicht bespielt hat: Edinburgh, Nairobi, Caracas, Nancy, Paris, Reykjavik und so weiter. Nach dem totalen Erfolg auch in der namensgebenden Stadt entzogen sich die beiden Initiatoren des FTM dem Zwang, den solcher Ruhm mit sich bringt: sie gingen aus dem festen Haus in der Haidhausener Wörthstraße in eine leerstehende Fabrikhalle in der Dachauer Straße. Georg Froscher und Kurt Bildstein war die Gefahr, zur Institution zu werden, zu groß geworden. Gewicht auf Spielpädagogik Jetzt entsteht, «professioneller als früher», so Froscher, wieder das, was für das FTM charakteristisch ist: die Verbindung von Spielpädagogik mit Theaterarbeit. Da heraus, nicht aus der Theaterliteratur, entstehen die Produktionen des FTM, der sicherlich einzigen Privatbühne in München, die für ‹gelernte› Schauspieler nicht Anlaufstation ist. Mit denen kann George Froscher nichts anfangen, «weil sie mit sich selber nichts mehr anfangen können». Von den erwähnten rund 30 Münchner Privattheatern können (und dürfen) 12 bis 15 das Prädikat ‹anspruchsvoll› für sich verbuchen. Die hier vorab genannten und ausführlich beschriebenen allein deshalb, weil sie versuchen, eigene Wege zu gehen, Formen abseits des konventionellen Theaters zu finden. Das sind die kleinen Bühnen, die den großen Impulse geben, weil sie es geschafft haben. Die anderen machen mehr oder minder gewollt oder bewußt ‹kleines Kammerspiel›. Die einen hören's gern, die anderen weniger Kaum einzuordnen ist das Studiotheater von Gunnar Holm-Petersen (und Beles Adam), der früher in Saarbrücken als Schauspieler engagiert war. Sein neuestes Experiment ist die Zusammenarbeit mit dem alten Fassbinder-Kreis: Peer Raben, Kurt Raab und Volker Spengler, der im Studiotheater auch sein Regiedebüt mit Genets Gefängnisstück Unter Aufsicht gab. Und zur Zeit munkelt man gar, daß in der Schwabinger Ungererstraße das Fassbindersche Anti.Theater wiederbelebt werden soll. Mit zufriedener Miene nimmt Boris von Emdé die Titulierung ,«Kleines Kammerspiel» entgegen. Sein Publikum im zentral gelegenen Theater am Einlaß will: lonescos Stühle, Strindbergs Fräulein Julie, Williams Glasmenagerie. Uta Emmer vom Modernen Theater schaut mit Osbornes Blick zurück im Zorn nach einjähriger Pause im neuen Haus in die Zukunft. Das Off-Off-Theater, nach dem Weggang seines spiritus rector Kelle Riedl von Maddalena Kerrh alleine betrieben, greift nach Stoffen wie Steinbecks Von Mäusen und Menschen oder dem Leben der Isadora Duncan. Im dienstältesten Münchner Privattheater, dem Theater 44 von Horst A. Reichel, immer wieder Camus und Sartre, zur Zeit die Geschlossene Gesellschaft. Und dann natürlich die Komödien, die Boulevard-Theater: Die Kleine Komödie, Theater Die kleine Freiheit, das lntime Theater, das T(h)eater in der Briennerstraße, Stücke von Ambesser, Shaw, Forbes, Anouilh und wieder Shaw. Dort spielen die Akteure, die man vom Fernsehen her kennt, teilweise Schauspieler mit Monatsgagen, die den Jahresetat so manches Kleintheaters ausmachen. «Bekannte Gesichter ...» Zwei relativ neue Privattheater seien in dieser Auswahl noch erwähnt, die sich ebenfalls zusehends in die Gunst des Publikums spielen: Das Theater rechts der Isar in den alten Räumen des FTM, wo seit März Dario Fos Zufälliger Tod eines Anarchisten auf dem Programm steht. in den Räumen der Universität spielt das Furore Companietheater Bekannte Gesichter/Gemischte Gefühle von Botho Strauß. Mit den Titel dieses an großen Häusern überaus erfolgreichen Stücks ließe sich auch die derzeitige Situation der Münchner Privattheater-Szenerie umschreiben. Die kleinen Bühnen finden immer mehr Anerkennung in ‹gebobenen› Theaterkreisen, was zur Folge hatte, daß Regisseure der Stadt- und Staatstheater einen ‹Markt› für sich entdeckten. Viele dieser lonescos und Osbornes sind von ihnen inszeniert, beispielsweise von Claus Landsittel oder von Andreas Fricsay. Und so regen sich bei manchem Betrachter gemischte Gefühle: Eine auf Zuschauerzahlen ausgerichtete Subventionspolitik fördert eine Entwicklung, die den freien Theatern abträglich sein dürfte: Je mehr solch ein Mini-Theater zur Institution wird, desto weniger kreativ ist seine Arbeit. ln München zum Beispiel hat es das Stück eines unbekannten Autors oft sehr schwer. Saarbrücker Zeitung Nr. 86, Samstag/Sonntag, 12./13. April 1980, Feuilleton, Seite I
la chose micmac Hierbei handelt es sich um einen Umzug in das hiesige gastliche Haus. Die Gründe dafür sind hier angegeben. Hier konserviert micmac sich selbst. micmac bedeutet Mischmasch, auch pêle-mêle geheißen (gleichermaßen aber auch Intrige!). Es charakterisiert mich am ehesten: Intriganter Mischmaschling. Viel passieren wird hier jedoch nicht. — la chose: die Sache, das Ding dient primär als Archiv von Texten, teilweise steinzeitkohlenalt, auch gerne denjenigen zur Verfügung gestellt, die mal schauen möchten, was früher am Rande (das Zentrale, das Erhabene ist anderenorts gesichert) so abging, als sie noch nicht gehen konnten. Sie werden — und (endlich darf ich) chronologisch wirr durcheinander — nach und nach aus den Tiefen der Zeit nach oben befördert, auf daß die Erinnerung in neuem Licht erstrahle. Wenn das Riesenloch aufgefüllt ist, das die Zeitläufte hinterlassen haben, kommt vermutlich auch Jüngeres hinzu; es liegt in der Natur eines Umzuges, daß dies dauern wird. Zu mir: Ich bin Gründungsherausgeber des im Februar 1988 erstmals erschienenen Kritischen Lexikons der Gegenwartskunst, betreute es bis zum Jahresende 2006 auch redaktionell verantwortlich. Ebenfalls gegründet und herausgegeben sowie redaktionell verantwortlich betreut habe ich das Laubacher Feuilleton, ein von 1992 bis 1996 fünf Jahre lang im Blätterwald flatternder Winzling. Aber wie das eben so ist mit den Kleinen: Irgendwann kriegt man sie nicht mehr gepackt ... 1999 begründete ich mit Christina Schellhase und in deren gleichnamigem Verlag (wo auch das Laubacher Feuilleton zuhause war) Kurzschrift. Für die Freunde der Langschrift. Letzteres ruht so für sich hin, gleichwohl immer irgendwie innerlich in Bewegung. Für unsere Druckschriften haben wir mittlerweile einen angemessenen Archivhof gefunden (der sich ebenfalls auf dem hiesigen Gelände befindet): weiterblättern. Vor alldem und mittendrin war ich das, was ich nun, nach meiner Privatisierung, wieder bin: als Kunst- sowie Kulturpublizist unterwegs (Mitglied von aica = Association Internationale des Critiques d'Art: Internationaler Kunstkritikerverband), allerdings mehr flanierend denn, wie in früheren Zeiten, alles mögliche durchwuselnd oder gar -rasend. Meine Fix- und Ruhepunkte sind Hamburg und der Rand von Marseille: l'Estaque. In ersterem bewacht mich die Familie, in letzterem blicke ich gelöst auf die (manchmal) gerinnende Zeit.
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la chose ist das hierher umziehende Archiv von micmac. Letzte Aktualisierung: 30.10.2015, 04:39
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