Mit Angst vorm Publikumserfolg

München hat die größte deutsche Privattheater-Szene, so war das jedenfalls in den Siebzigern und auch noch später — ein Rückblick auf die Spielereien der Saison des Jahres 1980.

Das Münchner Privattheater ist brav und langweilig, ist lasch, kraftlos und saftlos geworden. Kein Risiko mehr, keine Sinnlichkeit, niemandem weh tun, die Zuschauer möglichst einlullen. Es gibt keine Verrisse mehr, kaum noch Eklats, kaum noch fliegen die Fetzen. Es hat sich alles eingependelt auf ein wohlanständiges Maß an Neuheit.

Diese gar nicht ‹wohlanständige› Meinung ist die von Mathias Eysen, jemand, der sich auskennt in der Münchner Privattheaterszene: Er leitete von 1968 bis 1972 das Schauspiel München, an dem Regisseure wie Jürgen Flimm, Andreas Fricsay oder Gerd Pfafferoth inszenierten und andere Theaterkoryphäen wie Otto Sander oder Benjamin Henrichs darstellerisch oder dramaturgisch mitarbeiteten. So will denn der Schauspieler und Regisseur Mathias Eysen aus der Not eine Tugend machen, dem Münchner (Theater-)Maß die Wohlanständigkeit nehmen, mit den Brettern, die (vor allem in München) so vielen die Welt bedeuten, eine neue Bühne zimmern — wieder selber machen.

Gedränge am Subventionstopf

Vorausgesetzt, er würde ein festes Haus beziehen können, wäre dies dann eines von mehr als 30 Klein- und Kleinsttheatern der bayerischen Metropole; keine andere bundesdeutsche Großstadt bietet (quantitativ) mehr. Welche Fachleute man auch immer befragt, keiner weiß so recht, warum in München so viel Theater gemacht wird. Und die Zahl derer, die sich um den Subventionstopf versammeln, die auch was abkriegen wollen von der barmherzig anmutenden Million pro Jahr, vermehren sich zusehends.

Wilfried Passow, akademischer Oberrat am theaterwissenschafttichen Institut und gewählter Vertrauensmann der Privattheater im sechsköpfigen Beratergremium für die Vergabe von Zuschüssen, sieht dieses Frühlingserwachen in dem Humus, der München für Theater darstellt. Die Zusammensetzung dieses Nährbodens erklärt sich in erster Linie in der Attraktivität der Stadt für Schauspieler; pausenlos wird hier produziert: Film, Fernsehen, und eben Theater. Die Stadt mit dem ‹hohen Freizeitwert› ist ein Auffangbecken vor allem für junge, meist gerade von den Schauspielschulen kommende Akteure. Und es ist immer noch besser, an einem Mini-Theater zu spielen als an gar keinem Theater. Es gibt zwar kein (oder nur sehr wenig) Geld, dafür aber Presse. Vor allem die beiden Münchner Boulevard-Zeitungen AZ und TZ schwärmen hier allabendlich aus, und auch die Süddeutsche Zeitung beteiligt sich rege an diesem permanenten theatralischen Wettkampf. Und die Zahl der Regisseure, die im «Millionendorf» zumindest einen Zweitwohnsitz haben, ist nicht minder beträchtlich.

Dem provokativ gemeinten Adjektiv ‹wohlanständig› von Mathias Eysen ist indes nur bedingt zu widersprechen. Der von der Literatur geprägte 8egriff Neue Innerlichkeit trifft auf die meisten der Münchner Privatbühnen zu. Die Programmpolitik dieser Theater spiegelt im wesentlichen das, was man hierzulande Volksempfinden nennt, und das Volk empfindet zur Zeit nunmal in erster Linie sich selbst, betreibt Vergangenheitsbewältigung. Aber das ist kein Blick zurück im Zorn, es ist in erster Linie Identitätssuche. Die Auseinandersetzung findet kaum mehr im formalen Bereich statt, gut zwei Drittel der ‹führenden› Privattheater holen sich ihre Impulse aus dem kleinen Kammerspiel. Diejenigen, die den großen institutionalisierten Häusern Impulse geben, sind in der Minderzahl. Und das Münchner, (noch) überwiegend jüngere Publikum nimmt dankbar an und geht wieder mehr ins (Privat-)Theater.

Der Trend zur publikumsorientierten Programmpolitik wird forciert durch die Subventionspolitik der Münchner Ratsherren. In dem von der CSU nach der Rathausübernahme 1978 erstellten ‹Kriterienkatalog› — von Passow allerdings als «fern der Realität» bezeichnet — wird eine Förderungswürdigkeit in Punkt 3 von der «Anzahl der Aufführungen pro Jahr» und in Punkt 5 von der «Anzahl der Sitzplatze und ihre Auslastung» abhängig gemacht. Demnach bekommt der, der ohnehin schon hat — mehr Zuschauer, ergo mehr Geld.

Alexeij Sagerer vom Prozessionstheater (ProT) kommentierte das in der für ihn (theater-)typischen Art: Entweder «Ein Theater hat viele Sitzplätze, aber ganz wenig Besucher, es braucht also ganz viele Subventionen, um die vielen Sitzplätze finanzieren zu können; oder: Ein großes Theater kriegt mehr Subventionen als ein kleines Theater, weil ein großes Theater etwas größeres ist als ein kleines Theater und der Unterschied durch die Subventionen noch verdeutlicht werden soll.»

Sagerers ProT, dem alten bayerischen Theaterspiel verschrieben, bekam 1979 45.000 DM. Fast möchte man meinen, er bekäme deshalb so ‹viel›, weil das Exotische etwas ist, das man nicht kennt und man deshalb so viel Geld dafür ausgibt. Dabei (und da setzt Erstaunen über die ‹Konsequenz› der Forderung ein) ist das ProT in der Schwabinger Isabellastraße ein Winzling zwar an Theater, gleichwohl Sagerer keiner, wenn es darum geht, denen da oben (aber auch denen da unten!) ihre politischen Aussagen und Taten aufzurechnen. Aber der gebürtige Niederbayer tut das so verquer, daß man schon sehr konzentriert in sein Theater gehen (und zuhören) muß, um nicht einfach nur darüber lachen zu müssen, es eben auch verstehen zu können.

Aber mit der Beurteilung künstlerischer Leistungen tun sich die Münchner (Kultur-)Politiker insofern nicht schwer, als in seltensten Fällen einer aus ihren Reihen die Pforten dieser gar nicht so heil'gen Hallen durchschreitet. Sogar Hellmuth Duna, Leiter des (nicht subventionierten) T(h)eater in der Briennerstraße, der sich in seinem Boulevardtheater mit Jean Anouilhs Colombe oder Die weiße Taube «übernommen» hat, weil seiner Meinung nach «für das Münchner Publikum zu anspruchsvoll», klagt's: «Sie gehen ja nicht ins Theater, die Politiker.» Keine Zeit, hieße es meist, aber immer wieder lese man in den Zeitungen, daß sie mal wieder beim Starkbieranstich eine führende Rolle gespielt hätten. «Und bei einem Galaabend in der Nationaloper, natürlich ...»

Die Privaten arbeiten billiger
So stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die 200.000 DM verteilt werden, die dem Subventionstopf von einer Million vorab für «besondere künstlerische Leistungen» entnommen werden. (Dabei ist ein subventionierter Privattheatersitzplatz um einiges billiger als einer im Stadt-, Staats und Landestheater; die kleinen kosten im Schnitt fünf, die großen 65 Mark pro Jahr.)

Eine der kleinen Bühnen, die ihrer politischen Denkart gemäß immer wieder anecken und deshalb regelmäßig das große Subventionszittern bekommen, ist das Theater k in der Schwabinger Kurfürstenstraße. Dabei steht das k keineswegs für ‹kommunistisch›, wie viele schlicht Informierte meinen. Es steht, so Wolfgang Anraths, für das k-ollektiv, das er leitet, und zwar organisatorisch. Mit Kinder- und Jugendstücken immer wieder auf Tournee, ist das Theater k längst ein Begriff über die Grenzen Bayerns und auch der Bundesrepublik Deutschland hinaus geworden. Aktuelles politisches Theater ist der Schwerpunkt des Programms, etwa (zunächst parallel zum Schriftstellerkongreß) das Programm Dichter zwischen Krieg und Frieden, eine Collage aus Texten von Ernst Toller, Johannes R. Becher und Heinrich Mann.

Ebenfalls «Theater in sozialer Verantwortung» macht das Theater in der Kreide, kurz TIK genannt. Seit 1975 verfügt die 1973 gegründete Truppe über ein festes Haus — weit draußen am südlichen Stadtrand Münchens, in der Satellitenstadt Neu-Perlach. Dorthin wollte man nämlich Theater tragen: Von Shakespeare bis Brecht, von Revuen bis selbstgeschriebenen Stücken.

Die vorletzte Produktion, Brechts Dreigroschenoper brachte einen «fatalen» Erfolg. Nachdem gar in Pariser Zeitungen Lobeshymnen gesungen wurden, tauchten in Neu-Perlach, so Joachim Hall vom Fünfer-Direktorium, «die Nerzjäckchen und Abendkleider auf». Ein Jahr lang wurde die Dreigroschenoper en suite gespielt, und das ist es nicht, was das TIK will: en suite spielen. Neue Stücke müssen her.

Ähnlich ging es dem Theater am Sozialamt (TamS). Das Problem ‹neues Publikum› formulierte Anette Spola so: Sie sei ja sehr erfreut über das auf Monate hinaus ausverkaufte Stück Stan und Ollie in Deutschland (das Urs Widmer für das TamS schrieb, mittlerweile von drei großen Bühnen übernommen), aber das Stammpublikum bliebe draußen, das nämlich bestelle nicht vor.

Das fünfte Rad an diesem Thespiskarren ist das Freie Theater München. Kaum ein berühmtes Festival, das diese Truppe noch nicht bespielt hat: Edinburgh, Nairobi, Caracas, Nancy, Paris, Reykjavik und so weiter. Nach dem totalen Erfolg auch in der namensgebenden Stadt entzogen sich die beiden Initiatoren des FTM dem Zwang, den solcher Ruhm mit sich bringt: sie gingen aus dem festen Haus in der Haidhausener Wörthstraße in eine leerstehende Fabrikhalle in der Dachauer Straße. Georg Froscher und Kurt Bildstein war die Gefahr, zur Institution zu werden, zu groß geworden.

Gewicht auf Spielpädagogik
Jetzt entsteht, «professioneller als früher», so Froscher, wieder das, was für das FTM charakteristisch ist: die Verbindung von Spielpädagogik mit Theaterarbeit. Da heraus, nicht aus der Theaterliteratur, entstehen die Produktionen des FTM, der sicherlich einzigen Privatbühne in München, die für ‹gelernte› Schauspieler nicht Anlaufstation ist. Mit denen kann George Froscher nichts anfangen, «weil sie mit sich selber nichts mehr anfangen können».

Von den erwähnten rund 30 Münchner Privattheatern können (und dürfen) 12 bis 15 das Prädikat ‹anspruchsvoll› für sich verbuchen. Die hier vorab genannten und ausführlich beschriebenen allein deshalb, weil sie versuchen, eigene Wege zu gehen, Formen abseits des konventionellen Theaters zu finden. Das sind die kleinen Bühnen, die den großen Impulse geben, weil sie es geschafft haben. Die anderen machen mehr oder minder gewollt oder bewußt ‹kleines Kammerspiel›. Die einen hören's gern, die anderen weniger

Kaum einzuordnen ist das Studiotheater von Gunnar Holm-Petersen (und Beles Adam), der früher in Saarbrücken als Schauspieler engagiert war. Sein neuestes Experiment ist die Zusammenarbeit mit dem alten Fassbinder-Kreis: Peer Raben, Kurt Raab und Volker Spengler, der im Studiotheater auch sein Regiedebüt mit Genets Gefängnisstück Unter Aufsicht gab. Und zur Zeit munkelt man gar, daß in der Schwabinger Ungererstraße das Fassbindersche Anti.Theater wiederbelebt werden soll.

Mit zufriedener Miene nimmt Boris von Emdé die Titulierung ,«Kleines Kammerspiel» entgegen. Sein Publikum im zentral gelegenen Theater am Einlaß will: lonescos Stühle, Strindbergs Fräulein Julie, Williams Glasmenagerie. Uta Emmer vom Modernen Theater schaut mit Osbornes Blick zurück im Zorn nach einjähriger Pause im neuen Haus in die Zukunft. Das Off-Off-Theater, nach dem Weggang seines spiritus rector Kelle Riedl von Maddalena Kerrh alleine betrieben, greift nach Stoffen wie Steinbecks Von Mäusen und Menschen oder dem Leben der Isadora Duncan. Im dienstältesten Münchner Privattheater, dem Theater 44 von Horst A. Reichel, immer wieder Camus und Sartre, zur Zeit die Geschlossene Gesellschaft. Und dann natürlich die Komödien, die Boulevard-Theater: Die Kleine Komödie, Theater Die kleine Freiheit, das lntime Theater, das T(h)eater in der Briennerstraße, Stücke von Ambesser, Shaw, Forbes, Anouilh und wieder Shaw. Dort spielen die Akteure, die man vom Fernsehen her kennt, teilweise Schauspieler mit Monatsgagen, die den Jahresetat so manches Kleintheaters ausmachen.

«Bekannte Gesichter ...»
Zwei relativ neue Privattheater seien in dieser Auswahl noch erwähnt, die sich ebenfalls zusehends in die Gunst des Publikums spielen: Das Theater rechts der Isar in den alten Räumen des FTM, wo seit März Dario Fos Zufälliger Tod eines Anarchisten auf dem Programm steht. in den Räumen der Universität spielt das Furore Companietheater Bekannte Gesichter/Gemischte Gefühle von Botho Strauß.

Mit den Titel dieses an großen Häusern überaus erfolgreichen Stücks ließe sich auch die derzeitige Situation der Münchner Privattheater-Szenerie umschreiben. Die kleinen Bühnen finden immer mehr Anerkennung in ‹gebobenen› Theaterkreisen, was zur Folge hatte, daß Regisseure der Stadt- und Staatstheater einen ‹Markt› für sich entdeckten. Viele dieser lonescos und Osbornes sind von ihnen inszeniert, beispielsweise von Claus Landsittel oder von Andreas Fricsay. Und so regen sich bei manchem Betrachter gemischte Gefühle: Eine auf Zuschauerzahlen ausgerichtete Subventionspolitik fördert eine Entwicklung, die den freien Theatern abträglich sein dürfte: Je mehr solch ein Mini-Theater zur Institution wird, desto weniger kreativ ist seine Arbeit. ln München zum Beispiel hat es das Stück eines unbekannten Autors oft sehr schwer.


Saarbrücker Zeitung Nr. 86, Samstag/Sonntag, 12./13. April 1980, Feuilleton, Seite I

 
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