Der begradigte (J. S.) Bach

Fragen zu Ökologie und Ästhetik


Wir leben in einer Gesellschaft, die zu einem großen Teil aus ihrem Fortschrittsglauben herausgerissen zu sein scheint. Es stellt sich die Frage nach den Gründen dafür: daß aus ehemals sogenannten ‹braven Bürgern› so etwas wie ‹Chaoten›, aus loyalen ‹grünen Witwen› engagierte Politikerinnen im Lager der ‹Grünen› geworden sind?

Eine neue Generation leistet seit geraumer Zeit Widerstand, stellt gegen vor gar nicht so langer Zeit selbstverständliche gesellschaftliche Normen neue Sinn- und Seinsfragen. Und auch ein Großteil der älteren Generation sieht sich in ihren bereits vor langer Zeit geäußerten Zweifeln an einer technoid ausufernden Zivilisation bestätigt. Andererseits ist aber gerade diese ‹Zivilisation› für weite Teile der Bevölkerung stolz verklärter Träger einer nahezu paradiesischen Zukunft im Sinne materiellen Wohlstands — eine ‹Zivilisation›, die sie gerne — aus den genannten Gründen — in die dritte und nunmehr vierte Welt exportieren möchte.

Erörtert werden sollen hier keine aktuellen politischen Fragen, wohl aber die nach den Ursachen einer Bewegung, die sich die Errettung beziehungsweise die Bewahrung unserer natürlichen Umwelt aufs Banner geschrieben hat. Ausgangsbasis ist für den folgenden Versuch, ursächliche Zusammenhänge zu verdeutlichen, ist die Kunst: Da jede Kunst von jeher ihre Wurzeln im gesellschaftlichen Gefüge hat, ist sie an sich politisch.

Längst hat die Kunst ihrer Aufgabe entsagt, eine zusehends monströsere Wirklichkeit zu verklären. (Auch L'art pour l'art ist ein Faden des gesellschaftspolitischen Netzwerkes. Es gibt davon auch eine Deutung oder auch Wertung des Apolitischen, eine Bewegung, die um ihrer selbst willen auf der Stelle tritt; von dieser soll hier jedoch nicht die Rede sein.) Die meisten Künstler verstehen ihre Arbeit als Kommentar zu den politisch bestimmten Zeitläuften. Und tatsächlich: Dort, wo die Kunst es unterläßt, über den Tellerrand der Wirklichkeit zu schauen, wird sie zum Kitsch. Aber kitschig ist beileibe nicht nur der ‹röhrende Hirsch›, die Hummel-Figur, bisweilen auch der Sozialistische Realismus. Als Kunst deklariert geht Kitsch auch in Formen auf, die wir uns angewöhnt haben, als ‹modern›, ‹postmodern› oder ‹zeitgenössisch› zu bezeichnen.

Ob Kunst von heute oder die eines vergangenen Jahrhunderts: immer bedient sie sich einer ihr adäquaten Darstellungsmethode geistiger Erkenntnis. Und deren systematische Durchdringung nennen wir Ästhetik.

Ästhetik. Wer nimmt diesen Begriff nicht tagtäglich in irgendeinem Zusammenhang für sich in Anspruch?! Ein an mehreren Rundfunkanstalten und Magazin-Redaktionen gefragter Kommentator namens Ludolf Hermann beispielsweise nannte einmal den größten Teil der Massen, die sich an einer Friedensdemonstration beteiligten, «unästhetisch». Dagegen fällt vielen Menschen bei der Betrachtung von riesigen Schlachtengemälden kein anderes Adjektiv ein als «ästhetisch».

Lehre vom Schönen?
Schon die gesamte antike Ästhetik, auf die sehr viele Menschen unter uns sich nur allzu gerne berufen, steckte voller Widersprüche. Und diese sind gut erhalten.

Nach der Definition des Philosophischen Wörterbuches des Seemann-Verlags aus der [ehemaligen] DDR geht ein wesentliches Moment auf im griechischen Wort ‹Kosmos›. Dies bedeute «Ordnung, Schönheit, Weltall zugleich». «Kosmetik», heißt es da, «enthalte noch diese Komponente». Und weiter: «Die Ordnung der Welt zu diesem Zeitpunkt als ‹schön› empfinden konnte allerdings nur eine Klasse, die mit sich selbst und ihrer Existenzform zufrieden war.» — Es handelte sich bei dieser ‹Klasse› um die Aristokratie der Antike. Und so manch einer möchte ihr auch heute angehören ...

Bazon Brock, Wuppertaler Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung, verweist in seiner Begriffsbestimmung zunächst auf Anzeigen in italienischen Zeitungen unter der Rubrik ›Aestethica›, die nichts anderes meinen als Maniküre und Pediküre. Historisch gesehen sei Ästhetik jedoch — siehe oben — die Lehre vom Schönen. Von dieser Lehrmeinung habe man sich jedoch spätestens seit 1750 verabschiedet.

Von diesem Zeitpunkt an beschäftigt sich der denkende Mensch, lange vor der Kunstgeschichte und auch der Philosophie, so Brock, mit der Frage: «Alle Menschen sind von Natur aus mit demselben neurophysiologischen Apparat ausgerüstet. Was wir von Natur aus sind, sind wir in einem unglaublich hohen Maße alle miteinander gleiche Weise. Weshalb kommen wir dann angesichts derselben Gegenstände in unserer Lebensumgebung alle zu so unterschiedlichen Urteilen?»

Friedrich von Schiller unterscheidet in seinen Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände so: «Das Angenehme vergnügt bloß die Sinne und unterscheidet sich darin von dem Guten, welches der bloßen Vernunft gefällt. [...] Das Gute, kann man sagen, gefällt durch die bloße vernunftgemäße Form, das Schöne durch vernunftähnliche Form.»

Gebaute Häuser
Schillers Betrachtung des Ästhetischen erinnert an das Postulat der Bauhaus-Künstler zu Beginn der zwanzigerer Jahre. Es war — unter anderem — die Forderung nach der guten Form, die auch das industriegefertige Produkt ausweisen sollte, die sich ergibt aus vernunftbestimmtem Materialeinsatz und entsprechendem Gebrauch.

Mit der positivistischen Ästhetiktheorie des Bauhauses zeichnete sich allerdings auch die Gefahr ab, daß es in der Folge weniger auf systematische Durchdringung und vielmehr auf die Verschleierung des Aggressionspotentials industrieller Fertigung ankommen könnte. Bauhaus-Kritiker wie der US-amerikanische Architekturhistoriker Alexander Tzonis machten Bauhaus-Lehrern wie Walter Gropius, Mies van der Rohe oder anderen den Vorwurf, sie machten «aus jedem Teeglas ein Problem konstruktiver Ästhetik». Doch bei aller — bereits postmodernistisch anklingenden — Kritik am Bauhaus: Wenn Mies van der Rohe geäußert hat, «wir sollten neue Formen entwickeln», so bezog sich das nicht nur auf eine Vereinfachung der Produktion, sondern sie sollte auch eine Veränderung politischer Verhältnisse spiegeln — hin zu mehr Demokratie.

Ein weiterer Apologet und Mitbegründer einer neuen, durchdachten Form um einer neuen Lebensqualität willen war Le Corbusier, der Schöpfer des Beton brut, also des ‹reinen› Betons als preiswertem und jederzeit verwendbarem Baustoff (der ja bereits in der Antike Verwendung fand). Er äußerte 1937, allerdings kaum ahnend, welche (teilweise bewußten) Mißverständnisse, ja gezielte Fehlinterpretationen das zehn, zwanzig Jahre danach hervorrufen sollte: Da die Innenstädte dem zunehmenden Individualverkehr keinen Raum mehr böten, müsse man sie abreißen und nach außen verlegen — die Ville verte, die grüne Stadt oder Stadt im Grünen.

Diese Argumentation kam in der Phase des Wiederaufbaus manch einem Großbauunternehmen, in Abstimmung mit euphorisierten Politikern, gerade recht. Zwar ließen sie im Einvernehmen mit Städteplanern und Architekten die Innenstädte oder das, was von ihnen übriggeblieben war, nicht ganz abreißen, ließen ein paar Reste doch noch in unseren Zentren stehen. Doch Satellitenstädte setzten sie zuhauf in den Sand — und nicht nur in den märkischen, sprich (zum Beispiel) Märkisches Viertel in Berlin. Bazon Brock (und vor ihm andere) gab diesen zubetonierten Stadtrandgebieten drastische Namen: Kaninchenstall-Architektur, Legebatterien-Architektur oder Pissoirhaus-Architektur, sprich Gropius-Stadt in Berlin, sprich Nordwest-Stadt in Frankfurt am Main, sprich München-Neuperlach et cetera, et cetera.

Ästhetizistische Expansion
Dieses hohe Maß an Aggressivität ist auch in energiefressenden Industrieprodukten enthalten. Obschon: Wer ist noch nicht der Faszination perfekt, perfektionistisch gestalteter Produkte erlegen?! Einer eleganten Hochhaus-Spiegelfassade etwa, einer ‹schwerelosen›, gelassen gespannten, kilometerlangen Autobahnbrücke, der ‹Erotik› einer Concorde oder eines anderen Flugkörpers — einer Rakete möglicherweise. Der Kontrollturm eines Kernkraftwerkes, das Röhrengewirr einer Raffinerieanlage (vielleicht auch das des Céntre Beaubourg in Paris), das kinetische Spiel von Computerbändern oder gleisendes Neonlicht können schön sein, können Reize ausüben. Oft werden sie ästhetisch genannt und sind jedoch nicht mehr als ästhetizistischer Überschwang.

Doch vor dieser Überreizung warnt, wie so viele, auch Jürgen Claus, Künstler und Kunstschriftsteller. In seinem Buch Expansion der Kunst schreibt Claus bereits 1982: «Lassen wir uns nicht auf die Technokraten ein. Stoppen wir den Künstler, der sich an eine technoide Zukunft verkauft, die den Menschen ‹ästhetisch› reguliert. Denn offenbar hat das schöpferische Potential des Menschen, wenn es nicht durch Einsicht in und Rücksicht auf den Menschen gerichtet ist, fließende Grenzen zu totalitären Vorstellungen.» (Um Mißverständnissen vorzubeugen: Claus' Argumentation zielt nicht auf eine Abkehr von der Nutzung aller technischen Möglichkeit durch den Künstler. Er selbst setzt sich, als Künstler, intensiv damit auseinander. Aber er warnt vor einer Kunst, vor einem Künstler, der alle Brücken des Tradierten hinter sich abbricht, um nur noch im Strom technologischer Nutzung ‹fortzuschreiten›.)

Schon Schiller sagte in seinen Zerstreuten Betrachtungen: «Weil nichts den Verstand nötigen kann, in seinem Geschäfte still zu stehen, so muß es die Einbildungskraft sein, welche demselben eine Grenze setzt. Mit anderen Worten: Die Größenschätzung muß aufhören, logisch zu sein, sie muß ästhetisch verrichtet werden.»

Auf der einen Seite der Verstand, der erkennt und verwirklicht, was machbar ist, und auf der anderen das Bedürfnis des Menschen nach dem Schönen, das bei Schiller durch vernunftähnliche Form gefällt. Exakt im Sinn dieser Ähnlichkeitsbeziehung ist der Mensch Ebenbild des Schöpfers — wer oder was auch immer das sein mag. Der Mensch ähnelt in seiner Fähigkeit, das Geschaffene, das Gewachsene verstehen zu lernen, der Kraft, die Natur und damit ihn selbst hervorgebracht hat.

Kunst — Natur
Menschenähnlichkeit ist auch das Wesen der Kunst. Kunst macht den Menschen transparent, macht ihn verstehbar, oder aber, wie Paul Klee es formuliert hat: Kunst sei menschliche Realität, in der sich die Verwirklichung seines Wesens — das sei seine Freiheit — manifestiere.

Das Kunstwerk ist eine durch intelligentes Vermögen erzeugte Realität — wie auch immer die Intelligenz gelagert sei. Die Wirklichkeit des Kunstwerkes läßt sich deshalb auch nicht ohne intellektuelle Anstrengung erkennen. Nicht anders verhält es sich mit der Natur. Unsere Forschung hat der Natur so manches Geheimnis entlockt, das wir uns zunutze machen. Aber je intensiver wir die Handhabung der Naturgesetze betreiben, um so mehr intelligentes Verstehen der Naturwirklichkeit, also die Art und Weise, wie sie als komplexer Zusammenhang wirkt, ist erforderlich. Wollen wir diesen Wirk-Zusammenhang, von dem letztlich auch unser Leben abhängt, nicht nachhaltig stören oder gar zerstören, bedarf es nachdrücklicher geistiger Anstrengung.

Sowohl die Kunst als auch die Natur sind Tat-Sachen. Sie sind Gegebenheiten, die den Charakter des Geschaffenen haben. Diese produzierten Ergebnisse sind in ihrer Existenzweise aber vom erkennenden Menschen abhängig. Wo diese Aussagen der Kunst nicht erkannt werden, bedeutet sie, die Kunst, nichts, ist sie wirkungslos. Und die Natur ist solange Gegner des Menschen, bis er ihre Aussagen verstanden hat. Sei es in der lebenserhaltenen Kraft der Elemente oder in der allgemeinen Gültigkeit der Naturgesetze.

Reflexivität
Die Ökologie — etymologisch: die Lehre vom Haushalt(en) — ist die modernste Naturwissenschaft. Sie versucht den Menschen erkennend wieder einzugliedern in seine natürliche Existenz, aus der er sich unter Einsatz von Technologie und der daraus resultierenden Technik selbst herausgenommen hat.

Katalysator von Ökologie und Ästhetik ist die Reflexivität. Bazon Brock bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Maler wie René Magritte, die «ihre ganzen Themenœuvre nur aus der Aufklärung über diese reflexiven Mechanismen gewinnen», denen eine verstandesgemäße Tätigkeit unterliegt. Betroffen durch die Resultate unseres Handelns, durch die Gestaltung unserer Umwelt, verengen wir zugleich die eigenen Lebensbedingungen, beispielweise durch die Umweltbeschädigung oder auch -zerstörung. Das reine (also nicht reflektierte) Tun ist heute zum Beispiel das Bauen von Maschinen, dessen Folgewirkungen wir nicht auf die gleiche Weise bewältigen können wie das ursprüngliche Produzieren.

Diese sich ständig verändernden Mechanismen hat sich, so Brock, die Kunst seit 500 Jahren «erklärtermaßen zur eigenen Fragestellung gemacht». So ergibt sich auf natürliche Weise ein enger Zusammenhang zwischen künstlerischen und ästhetischen Problemstellungen einerseits und ökologischen andererseits. Für Enoch zu Guttenberg, der im Bund Umwelt- und Naturschutz zuständig war für Ethik-Belange, ist es «im Grunde immer wieder dieselbe Frage, ob alles, was machbar ist, auch getan werden darf». Mit dem ungeheuren Fortschrittsglauben, so Guttenberg, gehe es uns heute so wie einst beim Turmbau zu Babel. Oder anders, mit unserem ‹Dichterfürsten› Goethe in dessen Gedicht Der Zauberlehrling: Wir werden die Geister, die wir riefen, nicht mehr los.

Als Sohn eines konservativen Politikers und als engagierter und praktizierender Katholik, als im Sinne von conservare, also des Bewahrens denkender Mensch ist Guttenberg über jeden Verdacht erhaben, als ‹Revoluzzer› die eigenen Reihen sprengen zu wollen. Doch gerade er bezeichnet es als «im Grunde absurd, daß gerade die Konservativen immer von Fortschritt reden und dabei aber nicht konservativ sind, sondern zerstörerisch». Der Beispiele sind genug, doch eines erscheint Guttenberg als besonders drastisch. Es ist — vergessen, aber akut — der Rhein-Main-Donau-Kanal, den er als Rhein-Main-Donau-Altar bezeichnete, vor dem viele Politiker knien, um dem Götzen Wirtschaftswachstum zu huldigen. (Der Rückzug aus der atomaren Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf geschah ja weder aus Gründen der reinen Vernunft noch aus vernunftähnlichen Gründen ...)

Doch der Natur- und Umweltschützer Enoch zu Guttenberg hat noch einen weiteren Verursacher beträchtlicher ‹Flurschäden› im Visier. Als international geachteter Dirigent sakraler Musik empfindet er es als unerträglich, daß Bachsche Messen oder Passionen zusehends zu sportlichen Übungen im Konzertsaal verkommen. Hier schlägt der Künstler Guttenberg einen plausiblen Bogen zwischen dem Komponisten Johann Sebastian Bach, dessen Kunst in ihrer im Religiösen wurzelnden Ursprünglichkeit einen Einblick verschaffen könnte in das Denken und Leben seiner Zeit, und der Begradigung des Baches, dessen einst natürlicher Verlauf die Gewachsenheit eines Dorfes, einer ganzen Landschaft bestimmte bzw. charakterisierte. Beide sind nach Guttenberg meist nicht mehr erkennbar in ihrer natürlichen Form.

Stadt-Sein
Nun hat sich ja einiges geändert in den letzten Jahren, was Landschaftsschutz betrifft. ‹Ökologische Erneuerung› nennt sich das, was auf einmal alle politischen Parteien erfunden haben wollen. Sicher, es werden Bäche wieder aus ihrem Beton-Streckbett herausgelassen, allenthalben legt man Biotope an, in Großstädten wird das endgültige Verkehrschaos produziert, indem man verkehrsberuhigte Zonen anlegt, an die sich kein Autofahrer hält — freie (Durch-)Fahrt und freies Parken für freie Bürger.

Was also hat sich wirklich verändert? Letztendlich wird weitergemacht. Die Dezentralisierung wird trotz vielfältiger Proteste weiterhin betrieben. Wo vor 15 Jahren eine Straße geplant wurde, dort kommt auch eine hin. — Und die Dörfer selbst, in denen die Bürger mit gutem Beispiel vorangehen könnten?

Eine fast zwölf Jahre alte Broschüre hat nach wie vor Gültigkeit. Dieter Wieland, ein geradezu messianischer Münchner Fernsehjournalist, hat sie 1978 (sic!) herausgegeben unter dem Titel Bauen und Bewahren auf dem Lande. Darin schreibt Wieland, der sich als vehementer Befürworter traditioneller ländlicher Bauweisen auszeichnet und dafür oft belächelt oder gar verunglimpft wird: «Von der Jungbäurin kam's wie eine Drohung. Sie würde nicht in ein altes Haus hineinheiraten.» Sie will, stellt Wieland fest, die Familie, also die Keimzelle des Staates, modern, also in einem Haus gedeihen sehen, das, auch heute noch, Spiegelbild ist der Wirtschaftswunderkultur der 50er Jahre, das so ausssieht: «[...] trübe Verpackungen im DIN-Format, zu hoch, zu kurz, zu laut, zu unruhig, zu kleinkariert und aufgedonnert mit Plastik, Glasbaustein und Aluminium. Sie wollen anders sein, neu, besser, komfortabler, sie wollen Stadt sein, Vorstadt immerhin, ein bißchen Film- und Fernsehkitsch dazu.»

Nur zu gern wird beim Hausbau auf den Architekten verzichtet, der die Proportionen nunmal besser im Griff hat als der Maurermeister, der meist die Planung einreicht. Und bei der Baustoffwahl greift man allzu gerne auf die Angebote des Baustoffhandels zurück, der naturgemäß nichts anderes will, als Profit machen — und den macht er nunmal mit Materialien der Großserie (es gibt einen Baustoffe-Supermarkt namens Bauhaus). Und sollte ein Dorf mal nicht von häßlichen Bauwarzen und von aus dem Urlaub mitgebrachten Türmchen, Erkerchen und Bruchsteinkaminen verunziert sein, stürzt sich ein anderer Kopf der Industriehydra darauf: der des Fremdenverkehrs. Von ihm wird dann ein solcher Ort — unter dem Motto Unser Dorf soll schöner werden — herausgeputzt wie eine Puppenstube, wird präsentiert in einem Trachtenlook, der demjenigen, der zuhause seinen Gelsenkirchener Barock stehen hat, zwar gefallen mag, aber echte Tradition ebenso ad absurdum führt wie die Volksmusik-Sendung am Fernsehabend.

Enoch zu Guttenbergs ästhetischer Brückenschlag zur Ökologie mag erzkonservativ erscheinen. Doch er war es schließlich, der die Absurdität aufzeigte, die zubetoniertes Geschichtsbewußtsein erzeugt. Denn konservativ läßt sich nunmal auch von der lateinischen Sprachwurzel ableiten: conservare gleich bewahren.

Ähnlich argumentiert Bazon Brock, der auch nach landläufigem Sprachgebrauch äußerst schwer in die Lade ‹konservativ› abzulegen ist. In seinem Essay Was heißt Avantgarde auf deutsch nennt er das Neue «in dem Maße leistungsfähig, indem es uns zwingt, das angeblich Bekannte, Vertraute, Traditionelle und Alte mit neuen Augen zu sehen». Bereits 1982 äußerte er, daß die «großen, sensationellen Taten der nächsten zehn Jahre dort stattfinden, wo verhindert wird, daß etwas getan wird». Die Zeit der definitiven Entscheidungen sei vorüber. «Ein reflexiver Mensch weiß, daß Pläne, Utopien, Entwürfe dazu da sind, um zu verhindern, daß irgendein Realisat, etwas wirklich Durchgezogenes einen Wirkungsanspruch haben kann, der auf Wahrheit, auf Unwidersprechbarkeit, auf Endgültigkeit ausgerichtet ist.»

Ware Arbeit
Die Arbeitsplätze. Immer wieder heißt es, die Umweltschützer würde Arbeitsplätze vernichten. Dabei ist hinlänglich nachgewiesen, daß über den aktiven, hauptsächlich technischen Umweltschutz nicht ein Arbeitsplatz verloren geht. Viel eher könnte ein neuer Schub an Innovation in Richtung einer neuen, hochqualifizierten und darüber hinaus exportierbaren Technik entstehen. Und was die formalästhetische Frage anbelangt: Ist ein Atomkraftwerk ein schönerer Anblick als Windrotoren oder eine Anordnung von Solarkollektoren?

Doch so wesentlich die Anwendung umweltschützender Technologie, genauer: Technik (denn Technologie ist die Technik-Forschung), also Weiterentwicklung und Produktion, ist: Die Gefahr, daß der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werden könnte, ist — im Wortsinn — ungeheuer groß. Im Bereich des Wohnungsbaus beispielsweise bedeutet erhöhter oder veränderter technischer Einsatz allein ja keineswegs die Zunahme ökologischer Qualität. Solange das Bruttosozialprodukt die heilige Kuh bleibt, solange die ökologische Rechnung nicht wirklich gestellt wird, also nicht die ökologisch relevanten Austauschbeziehungen zwischen wirtschaftlichem Unternehmen und Umwelt ins Licht der Öffentlichkeit kommen, bis in den letzten Winkel unseres Denkens, bleibt Umweltschutz Sisyphosarbeit.Tinnef Wieviel Arbeit, wieviel Freizeit, also wieviel Zweitkühlschränke, Dritt-Trimm-dich-Jogging-Anzüge aus Goretex und Viertfernsehgeräte benötigen wir denn? Wieviele Sonderangebote, also leichtfertig gekauften und nach (meist baldigem) Nichtgefallen schwierig zu (wie sich ein euphemistisches, von Politikern geprägtes Modewort abzeichnet) entsorgenden Sperr-Müll, also Überflüssigem aus dem Baumarkt, der sich, bezeichnend für unser Geschichts- und Geschmacksverständnis und mit seinem kleinteiligen, um nicht zu sagen kleingeistigen Ornamentsangebot völlig gegenläufig zur klaren Struktur dieses Mutterhauses der Vernunft-Form verhält, vielerorts Bauhaus nennt?! Wieviel hat denn die Industrie, der Handel seinerzeit bei den überall propagierten Zweitbremsleuchten innerhalb einer kürzesten Zeitspanne umgesetzt — 15 Millionen Mark. Da hat man den ewig Sicherheitsbedürftigen gewaltig auffahren lassen.

Nach den Autoren des schweizerischen NAWU-Reports Wege aus der Wohlstandsfalle — Strategien gegen Arbeitslosigkeit und Umweltkrise (und mittlerweile anderen Untersuchungen) ist das «alte kapitalistische Idealbild einer fleißig vor sich hinproduzierenden, ständig nach Konsumausweitung gierenden Gesellschaft, welche die Steuerung des Wirtschaftsablaufes getrost und ohne Rücksicht auf soziale Kosten und ökologische Folgen den wirtschaftlichen Laisser-faire überlassen kann», erschüttert. Durch Konjunkturschwankungen heraufbeschworene Ängste seien leichter zu verkraften, «wenn die in der Rezession (und auch die wird wieder kommen) ‹brachliegende› Arbeitskraft für die Selbstversorgung der Familie mit Nahrungsmitteln und für die Vertiefung der mitmenschlichen Kommunikation genutzt werden könnte». — Und für die Freisetzung der schöpferischen Fähigkeiten ...

An Joseph Beuys sei erinnert, den nur zu gerne mißverstandenen Künstler. Beuys hat nie gesagt, jeder Mensch sei ein Künstler; das ist die Wirklichkeit eines aus der Wahrheit gerissenen Halbsatzes. Beuys meinte allenfalls, der Mensch an sich sei kreativ. Und wie ernst es ihm mit einer von ihm immer wieder geforderten ästhetischen Erziehung war, belegt die Tatsache der von ihm gegründeten Freien Universität, in die er einen Großteil des von ihm verdienten Geldes hineinsteckte. Daß der Kunstmarkt zu seinen Lebzeiten verrückt spielte und sich, bezüglich seiner Arbeiten, heute schier überschlägt, darauf hatte er keinen Einfluß. Hier hatte und hat der Kunsthandel alleine Einfluß, genauer: diejenigen, denen oft jeglicher Zugang zu den Inhalten Beuysscher Kunst, oft zur Kunst überhaupt fehlt, die in der Kunst nichts anderes sehen als ein Spekulationsobjekt.

Einfaches Glück — Heimat
Im Zusammenhang mit den schöpferischen Fähigkeiten des Menschen fordern seit langem viele und immer mehr Architekten eine wesentlich gesteigerte Eigenbeteiligung des Bauherren an der Entstehung seiner ‹Behausung›, des eigenen Hauses. Allerdings ist das Ökologische Bauen an unseren Universitäten nach wie vor eine der ungeliebtesten Disziplinen. «Eine der schwierigsten Techniken», so Frei Otto, Professor für Architektur an der Technischen Universität Stuttgart «ist das primitive Bauen auf höchstem Wissensstand.» Der Planer (nicht etwa Günter Behnisch!) der Zeltüberdachung des Münchner Olympiastadions und sein Team beschäftigen sich seit langer Zeit mit Projekten dieser Art in afrikanischen Ländern, in England und Indien. Und auch andere, beispielsweise dem Deutschen Werkbund angehörende Architekten propagieren und praktizieren die Eigenbeteiligung der Bauherren an der Ausführung. Und das meint etwas anderes als das wochenendliche Auftürmen herkömmlicher Materialien nach der Nullachtfünfzehnplanung des örtlichen Kleinunternehmers. Es meint die aktive Teilnahme am Entstehungsprozeß.

Wir können aus unserer Kultur, aus dem, was in Frankreich Civilisation genannt wird, nicht entfliehen. Wir können uns ihr nur stellen, sie durchschauen, gestalten, permanent verändern, den wirklichen Bedürfnissen unseres Lebens anpassen, Fehlentwicklungen korrigieren. Im anderen Fall vernichten wir sie, weil wir die Entscheidungen darüber aus der Hand geben.

Die Gestaltung unserer Umwelt muß nach dem Prinzip Hoffnung vorgenommen werden. In Ernst Blochs Hauptwerk ist die Architektur, die Umweltgestaltung ein Punkt der Auseinandersetzung, ein Teil seines philosophischen Utopia'. Nach Bloch ist die Architektur ein «Produktionsversuch menschlicher Heimat». Heimat ist Blochs Gegenbegriff zu dem der Entfremdung. Die Symptome der Entfremdung führt Adolf Max Vogt in seinem Buch Architektur 1940 – 1980 auf die in steigendem Maße veränderte Arbeit durch den Industriekapitalismus mit der Folge der Umweltbedrohung zurück. Dadurch, daß der Arbeiter, vor allem der Fließbandarbeiter nichts Ganzes mehr herstelle, sondern nur noch endlos wiederholte Teile, trete eine Sinnentleerung ein: Arbeitsentfremdung. «Die Techniken», so Vogt, «verhalten sich zur Umwelt aggressiv — sie irritieren und unterbrechen die zyklischen Abläufe: Umweltentfremdung.» Bauen müsse deshalb sein oder endlich werden — und damit greift er Blochs Begriff auf — «ein Produktionsversuch menschlicher Heimat».

Diesen Versuch zu starten, hieße aber das Goldene Kalb Bruttosozialprodukt vom Stahlbetonsockel unserer Gesellschaftsordnung zu stoßen. Es hieße: eine Verringerung des ständig postulierten Mehrwerts, und zwar sowohl über minder erbrachte Fremdarbeit als auch durch geringere Produktion seitens der Industrie.

Kreativitätstherapie
Doch die unterläßt nichts: Auch der letzte Heimwerker muß wieder heimgeholt werden ins heilige Reich der Umsatzsteigerung. Nach Meinung der Marktstrategen läßt Kreativität sich auch fördern, ohne daß der Konsumverweigerung Vorschub geleistet werden muß. Gedruckte Malvorlagen für Hummel-Figuren, ein riesiges Angebot vorgefertigter Basteleien im Kaufhaus-Design — schließlich ist das Geschenk am vom Handel okkupierten Weihnachtsfest auf diese Weise auch selbstfabriziert und der Kopf somit wieder frei für neue Konsumtaten. Es gilt weiter, auch die neueste Bohrmaschine, den Einmanntraktor für den zu mähenden 70 Quadratmeter großen Vorgartenrasen im selbstgebauten Schuppen zu haben.

Der Wille zur Selbstgestaltung wird aus marktpolitischen Erwägungen kontinuierlich unterdrückt. Vorbestimmt wird eine private ästhetische Ordnung, die dem Reglement einer Religion unterliegt, die sich ‹freie Marktwirtschaft‹ nennt. Was dabei herauskommt, wird gemeinhin Geschmack genannt. Doch dieser Geschmack mag die Verhältnisse zunächst befriedigen, den Augenblick des Genusses verlängern, kann aber kein übergreifender Lösungsvorschlag sein. Die permanente Reizüberflutung durch Werbung trägt ihren Teil dazu bei, dem Mensch die Wege zu vernebeln, die ihn zur Selbsterkenntnis führen könnten.

Die Möglichkeit, sich selbst zu erkennen, läuft aber den Standards wirtschaftlichen Funktionierens zuwider. Deshalb wird derjenige, der in seinem Erkennen ‹aufgerüttelt› ist, als in der Krise befindlich bezeichnet. Und wer nicht glauben will, daß auch er krisenanfällig ist, dem wird's von geschäftstüchtigen Buchautoren, selbsternannten Therapeuten und Gurus in einer speziellen, besonders perfiden Art von Umweltverschmutzung täglich aufs neue eingehämmert. Das Leben wird hingestellt als eine Abfolge von persönlichen Krisen, zu deren Überwindung zumindest der Erwerb des Buches von Autor X notwendig ist, besser noch die Teilnahme an der neu entwickelten Therapie des Doktor Y, der ‹kreativen›, transzendental-meditativen Gruppenarbeit eines vom Berg heruntergestiegenen Heiligen aus Indien oder der Lüneburger Heide. Männer und Frauen preisen sich in Bekanntschaftsanzeigen, auch in Zeitungen mit hohem intellektuellen Niveau, an als Steinböcke, die daran glauben, eine Zweierbeziehung könne nur dann funktionieren, wenn eine Jungfrau an ihrer Seite stehe oder liege. Und umgekehrt. Der Spezialist, der Experte, ohne den unsere Technologie unmöglich wäre, liegt seit Jahren auf der Couch des Therapeuten und gibt ihm einen Gutteil seines Spitzengehalts, auf daß ihm geholfen werde, den Streß am Arbeitsplatz zu ertragen. Jugendliche — und nicht nur die — suchen in der Hektik der Straßen ihren eigenen akustischen Raum, verschließen sich mittels Kopfhörer dem Medium Sprache, das ja eigentlich eines der Verständigung ist. Der Wille zur Erkenntnis unterliegt im Kampf gegen den normierten, uniformierten Geschmack.

Verklärung
Die Gesellschaft verzehrt sich in einer betulichen Vergangenheitssehnsucht, die kulminiert in Trödel, Ramsch und wirklichkeitsverstellenden, gigantomanischen Ausstellungen wie die über die Staufer, die Wittelsbacher, Tut-ench-amun oder die güldenen Eier von Fabergè. Und wer den Begriff Heimatfilm wie der Historiker und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ruppert dahingehend interpretiert, daß Heimat etwas mit der Geschichte einer Region zu tun hat, die einzig zur Selbsterkenntnis führen kann, der hat mit Anfeindungen zu rechnen. In seinem Film Naila. Leben und Arbeiten im Frankenwald hatte er sich weniger der modernen Errungenschaften dieser Kleinstadt angenommen und mehr der historischen Dokumente. Mit dem Resultat, auf erhebliche Proteste seitens ‹konservativer› Politiker zu stoßen, die sich lieber als ‹fortschrittlich› gespiegelt gesehen hätten.

Ruppert ist auch der Schöpfer solcher Begriffe wie Industriekultur oder Erinnerungsarbeit. Erinnerungsarbeit — Geschichte und demokratische Identität in Deutschland ist auch der Titel des Buches, als dessen Herausgeber und Autor er auf einen besonderen Aspekt der Krise verweist, der im Zusammenhang steht mit der Praxis öffentlicher Geschichtsbewältigung. Ruppert fragt, ob Geschichte etwa eine kompensatorische Funktion übernommen habe, «die gerade von der gesellschaftlichen Wirklichkeit der achtziger Jahre, der neuen Existenzangst und individuell erfahrenen strukturellen Krise ablenkt. Während man in den fünfziger und sechziger Jahren die mit dem Nationalsozialismus belastete Vergangenheit zugunsten der einseitigen Betonung des industriellen Massenkonsums als Legitimation für die Gesellschaft der Bundesrepublik zu verdrängen suchte, dient Geschichte heute gewiß vielfach der Flucht, jedenfalls wenn sie zum Medium der Vorstellung einer heilen Welt wird. Die in den siebziger Jahren entstandene Mode der Nostalgie bedeutet Verklärung der Erinnerung. [...] Erinnerungsarbeit in der Geschichte von Lebenszusammenhängen muß über die bloße Nostalgie oder historische Requisitenschau hinausführen.»

Als »historische Requisitenschau» ist sicherlich auch eine Stil-Richtung der Architektur zu bezeichnen, die nach Charles Jencks benannte Postmoderne, von ihm untertitelt mit «Radikaler Eklektizismus» — eine Architekturrichtung, die zwar von der Fachwelt theoretisch als ‹abgefeiert› gilt, jedoch in der Praxis in voller Blüte steht, und nicht nur, weil kommunale Planungen oft zwei Jahrzehnte überdauern. Unter der Postmoderne werden die unterschiedlichsten historischen Alternativen zusammengefaßt. In seinem Buch Die Sprache der postmodernen Architektur mißt Jencks der regionalistischen Architektur große Bedeutung bei. Nach ihm benutzt der Radikale Eklektizismus «im Unterschied zur modernen Architektur das volle Spektrum kommunikativer Mittel — metaphorische und symbolische ebenso wie räumliche und formale». Der Radikale Eklektizismus mische alle Stile und Subsysteme in einem Bauwerk.

Architektur als Massenmedium? Architektur fürs Volk? Die Wissenschaftler Umberto Eco (identisch mit dem Romanautor) und Renato de Fusco zweifeln, zumindest unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen, an den Möglichkeiten der Architektur als Massenmedium. Drastischer ist die Absage der Architekten Maurice Culot und Leon Krier — wobei hinzuzufügen ist, daß Leon Krier von seinen Thesen abgewichen und mittlerweile ein heftiger Verfechter des historisierenden Bauens ist — an die Jenckssche Formulierung. In ihrem Aufsatz Der einzige Weg der Architektur stellen sie fest, daß «der provokatorische formale Eklektizismus [...], der seinen Höhepunkt in dem Kitsch findet, der jetzt schon alle Bereiche des Lebens und der Kultur beherrscht und das wichtigste kulturelle Phänomen der industriellen Zivilisation darstellt». Und der Architekturhistoriker Frank Werner ist in seinem 1981 erschienenen Buch Die vergeudete Moderne der Meinung, die Postmodernismusideologie entpuppe sich auf Dauer als neuer gesellschaftlicher Konservativismus. Wobei jener Konservativismus gemeint ist, der einer Popularästhetik das Wort redet, das unter der Flagge Geschmack fährt.

Bei aller berechtigten Kritik stellt sich dennoch die Frage, ob die Architekturkritik der letzten Jahre dieses nachmoderne Bauen nicht vorschnell in die Ecke der allein historisierenden Architektur gedrängt hat? Natürlich gibt es sie, die schwachen Talente, die unter der Ägide des Postmodernismus (der ja nicht nur eine Architekturrichtung ist — ursprünglich ohnehin aus der Literaturwissenschaft stammend — sondern sich in anderen Bereichen ebenso artikuliert) oder des Neuen Regionalismus Schutz suchen. Viele, sehr viele Architekten haben sich mitreißen lassen vom Sog dieser systemimmanenten Architekturdoktrin, die Beton einsetzt wie eh und je, ihn jedoch mit Marmor- oder Sandsteinplatten zuhängt, je nach Region und Gusto des Bauherrn. Und nicht wenige verstecken sich hinter nicht verstandenen Bauformen — und verdienen nicht schlecht dabei.

Veränderungen
Neuer Historismus — und wir leben mittendrin — sollte auf jeden Fall aufhorchen lassen. Schon immer signalisierte er viel weniger die Sehnsucht nach Vergangenheit als vielmehr einen Versuch, aus dieser auszubrechen.

Als Beleg hierfür mag die Architektur- und Kunsttheorie von Leon Battista Alberti gelten. Sie brachte in der Mitte des 15. Jahrhunderts das gesamte mittelalterliche System ins Wanken. Seine Idee eliminierte den göttlichen Maßstab, schuf die Basis für eine Vorstellung von einer befreiten Welt. Damit geriet sie zunächst in einen Konflikt mit der bestehenden Machtorganisation. Wobei ihr nicht erspart blieb, in den Dienst wiederum neuer Machtausübung genommen zu werden. Die in der Kunst aufgegangene Renaissance-Idee, nach der der Mensch zur Größe fähig und frei sei, wurde von den Machthabern dieser Zeit, allen voran die Medici, gepriesen und für sich in Anspruch genommen. Kunsterzeugnisse waren demnach nicht mehr Kommunikationsmittel einer zusammenhängenden Gesellschaft, sondern Repräsentationsinstrument vorhandener Macht.

Zwangsläufig mußte dagegen eine Opposition entstehen. Eine neuerliche Weltsicht brach durch. Zum Kompendium eines neuen Verständnisisses ward, im 18. Jahrhundert, die Encyclopaedie von Diderot, d'Alembert und anderen, unter ihnen Rousseau. Es war die Zeit der französischen Aufklärung.

Jedes nicht aus der Natur abgeleitete, sondern auf Forderungen menschlicher Autorität — gemeint war die Autorität der Herrschenden — beruhende System wurde als schändlich gekennzeichnet. Die reine Vernunft wurde zum Maß aller Dinge. Der französische Jesuit Marc-Antoine Laugier, ein einflußreicher Theoretiker dieser Zeit, brachte den Glauben auf die Formel: «Laßt uns nicht in falschem Glanze schwelgen; es zeigt das Fehlen von Genie. Laßt uns einfach und natürlich bleiben; das ist der einzige Weg zur Schönheit.»

Das war eine klare Kampfansage — sicherlich auch an das Ornament (das ohnehin orientalen Ursprungs ist). Es hatte seine Funktion als Kommunikationsträger verloren und wurde nunmehr als Zeichenträger der Macht verstanden. Alles andere hatte den Ruch der Restauration.

Ist demnach unsere heutige, mittlerweile ausufernde Hinwendung zur historischen, demnach historisierenden Form in Architektur und Kunst der Versuch, sie auch optisch zu verbrauchen, sie als Bedeutungsträger auszuschalten? Oder ist es der Versuch — in einer Zeit, in der wie nie zuvor auch optische Formen zu Verbrauchs- und Wegwerfprodukten degeneriert werden —, solche ‹Elemente» europäischer Geschichte wie Giebel, Säule et cetera im Widerstand gegen die Konsumideologie festzumachen? Soll Dauer, Beständigkeit und der Wille zu einer in ihrer Geschwindigkeit reduzierten evolutionären menschlichen Entwicklung signalisiert werden? — Da wäre der gehobene Landhausstil in ländlichen Gebieten oder die industrielle Fertigung von Fensterläden. Letztere werden beispielsweise in Oberbayern per Gestaltungssatzung gefordert und — angenagelt.

In weiten Teilen der Bevölkerung ist der Fortschrittsglaube ungebrochen. Nicht nur das — er wird nachgerade geschürt. Längst hat die Glorifizierung der Anfänge des Maschinenzeitalters ‹Tradition›. Das meint nicht die von Wolfgang Ruppert Archäologie der Industriekultur genannten notwendigen Versuche, industrielle Entwicklung aus der Perspektive des Grases, also der des Arbeiters zu zeigen, Lebensgeschichten nachzuvollziehen. Gemeint ist die Perspektive der Burg, die Bemühungen, aus der Geschichte der Industrie- und somit der Arbeiterkultur ein Repräsentationsinstrument wirtschaftlicher Macht entstehen zu lassen. Wo anstrengende historische Wirklichkeit dokumentiert werden soll, wird sie, wie in diesen gigantomanischen Ausstellungen, feierlich und geschmäcklerisch zudekoriert, wird nur noch die Schönheit der Form präsentiert. Selbstredend zieht die Industrie mit und bietet der postindustriellen Gesellschaft High-technical-Accessoires für Haus und Garten an — Technikgeschichte im Trachtenlook.

Historischer Kontext
Es wird immer weniger gestaltet und zunehmend mehr verkleidet. Das Ornament ist zur Dekoration verkommen. Beton wird zugehängt mit unreflektierter Erinnerung. Der technische Vorgang wird nicht mehr mit ästhetischen Mitteln verstehbar gemacht. Ästhetik als Medium des Menschen, Zusammenhänge geistig (und somit sich selbst) zu erfahren, ist zu einem Objektivierungsmittel für eine kleine Minderheit geworden. Die sitzt im Glashaus und nimmt am aktiven politischen Leben nicht mehr teil.

Die Freiheit der Kunst ist nur noch ein speakers corner im gesellschaftlichen Hide-Park. Dort darf der Künstler toben, weil er keine Wirkung zeigt. Seine Sprache wird vom Rezipienten nicht mehr verstanden, weil — unter anderem — die Kunsterziehung (welch ein Begriff!) sich laut curricularen Befehlen im Malen von sogenannter Wirklichkeit erschöpft. Den Betrachter lehrt man, die Oberfläche zu ‹genießen›. Künstlerische Gestaltung als Möglichkeit zur Problemdeutung (auch ein immaterielles, ein physikalisches oder ein geometrisches Problem kann ein künstlerisches sein) kann er nicht mehr erfahren. Die Sprache der Kunst begegnet ihm nur noch als Kunstsprache — im Ausstellungskatalog, abstrakt und ihm unverständlich. Und ihre Rückübersetzung durch eine verharmlosende Populär-‹Wissenschaft› verbrämt mehr, als daß sie Inhalte verdeutlicht. Die Kunst hat eine dem Gesellschaftssystem innewohnende Ex- und Hoppfunktion. Sie wird konsumiert übermonumentale Zusammenschauen von Exponaten, die ihrem historischen Kontext entrissen und so zu Amputaten wurden.

Unser Verhältnis und unser Verhalten zur Umwelt ist das Ergebnis eines historischen Prozesses. Der Mensch ist nicht genetisch spezialisiert, er ist, um einen Begriff von Arnold Gehlen zu verwenden, auf das «Nichtspezialisiertsein spezialisiert». Demnach ist er ungebunden in seiner Aufmerksamkeit, er kann frei entscheiden. Allerdings kann er nur eine sowohl räumlich als auch zeitlich begrenzte Anzahl sinnlicher Erfahrungen machen bzw. verarbeiten.

Aus diesem Grund war der Mensch von jeher gezwungen, sich Systemen der Beschränkung aufzuerlegen, die der Ordnung und der Förderung der Wahrnehmung dienen. Vielleicht ist es gerade unserem abendländischen Kulturkreis vorbehalten geblieben, innerhalb dieser Systeme die Aufmerksamkeit auf die Materialität der Dinge zu richten, ist doch die geistige Tätigkeit in abendländischen Sprachen verbildlicht in Begriffen wie: erfassen, begreifen, ein Problem einkreisen und so weiter.

Europäische Religion, europäische Kunst und europäische Zivilisation sind in gleichem Maße von einer eigenartigen Ungeduld gekennzeichnet. Alles drängt darin nach Taten, nach Realisieren, nach Bewältigen. Darin enthalten ist ein Dynamismus des Geistes, der sich zunehmend verselbständigt. Mit dem Resultat, daß immer mehr Menschen keine andere Möglichkeit mehr sehen als entweder sentimental entgegenzusteuern oder aber sich in neue Heilslehren zu flüchten.

Doch eine neue, andere Generation hat begonnen, neue Fragen nach Sinn und Sein zu stellen. Gefragt ist wider die überschaubare Welt des einzelnen. George Orwells Big Brother, sein 1984, ist uns längst zu nahe, hat uns bereits eingeholt. Deshalb bedeutet den meisten Menschen die Dezentralisierung, die Rückkehr zum kleinen geschlossenen Kreislauf weniger neurotische Idyllisierung als neue Werterkenntnis. Dabei sind «protestierende Laien», wie Otto Ulrich in seinem Buch Technik und Herrschaft schreibt, «einem neu zu bestimmenden Wahrheitskriterium weit näher als die gegen sie zur Beruhigung eingesetzten bornierten Experten».

Dennoch gilt es, neuen ideologischen Unwettern, wie auch immer sie sich nennen mögen, zu entgehen, einer neuen Heilslehre möglicherweise, die zur Volksreligion ausgerufen wird. Nicht geschehen darf, was Hermann Glaser schon 1973 in seinem, den Provinzialismus behandelnden Buch Der Gartenzwerg in der Boutique die «Betäubung des Logos zugunsten des Mythos» genannt hat.


Diesem Aufsatz zugrunde liegt eine Hörfunkssendung (mit Hellmuth Zwecker) des Westdeutschen Rundfunks, Redaktion Kultur und Wissenschaft, die am 7. Februar 1983 um 21.00 Uhr über WDR III ausgestrahlt wurde. Für einen Vortrag, der die Basis des obenstehenden Textes bildet, an der Münchner Akademie der Bildenden Künste am 13. Dezember 1983 und nachfolgend an weiteren Institutionen (veröffentlicht unter ISBN 392866900) wurde allerdings wesentlich von der Urfassung abgewichen.
 
Sa, 19.09.2009 |  link | (2502) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Aesthetik



Kulturbollwerk

Es war eine Schwerstgeburt, eine auf Raten sozusagen. Nach mehr als einem Jahrzehnt Planungs- und Bauzeit, nach der Eröffnung der Philharmonie, hat das Münchner Kulturzentrum Gasteig endgültig das Licht der Öffentlichkeit erblickt.

Nomen est omen: Der gache Steig ist ein steil ansteigender Weg (am Ufer der Isar). Mehr als steil in die Höhe ging es auch mit dem Preis für dieses Kulturbollwerk. Einst mit 120 Millionen veranschlagt, hat die Kultur-«Reichskanzlei» jetzt tatsächlich über 370 Millionen verschlungen.

Nun ist es müßig, über den Preis für gute Architektur zu streiten. Vor allem dann, wenn sie sich als ein demokratisches Gebilde versteht, das als Bereicherung eines Stadtbildes gesehen sein will. Und noch weniger kann eine Schuldzuweisung an die Architekten (Raue, Rollenhagen, Lindernann, Grossmann) wegen der Kostenexplosion ausgesprochen werden, wenn man weiß, wie viel Neuerungen und Änderungen das Team nachträglich, während bereits gebaut wurde, zu bewerkstelligen hatte.

Nur läßt sich hier von einer Bereicherung nicht sprechen. Stellvertretend für viele schimpfte Peter M. Bode in der Münchner Abendzeitung. «Je mehr Gerüste an Münchens Umstrittensten Mammut-Bau fallen, um so deutlicher zeigt sich die Gestaltungsschwäche der Architekten, die ihrer Aufgabe offensichtlich nicht gewachsen waren.»

Tatsächlich erinnert dieser «bedrückende Koloß» (Bode) eher an ein Kaufhaus mit «repräsentativem Charakter», dessen Architekten es zur Auflage gemacht wurde, es so zu planen, daß die Bevölkerung im Falle eines Fliegerangriffs darin Zuflucht finden kann. Keine noch so mutwillig mißverstandene Moderne in ihrer Klobigkeit, keine noch so von falschem Pathos triefende Postmoderne mit ihrem irrwitzigen Zuckerbäcker-Habitus vermag einern Stadtbild das anzutun, was diese Tempel-Architektur an Verunstaltung leistet. Den 445.000 Kubikmetern umbauten Raums, gefertigt aus 70.000 Kubikmetern Beton, verblendet mit eigens angefertigten, sogenannten handgeschlagenen Ziegeln (die handelsüblichen hätten es allerdings noch schlimmer gemacht), fehlen wirklich nur noch die Schießscharten ...

Dieses Kulturzentrum ist eine falsch inszenierte Operette, die dieses unsäglich verlogene «Doch wie's da drinnen aussieht, geht niemanden was an» verifiziert. Tatsächlich ist man sich im Inneren des Gebäudes nie sicher, ob man sich nun in einem Großlager für Särge, in einem Verwaltungsgebäude eines Bankriesen oder in einem Konsumtempel vom Zuschnitt Bloomingdale's befindet.

Da wäre die Eingangshalle, die vor allem zur Stadtbibtiothek führt. Sie sollte doch tatsächlich von vornherein den Charakter einer «Kathedrale» haben, wie Architekt Eike Rollenhagen verlauten ließ.

Auch was die Bibliothek betrifft, müssen die Baumeister einer Verwechslung unterlegen sein: Beabsichtigt war eine städtische und nicht etwa eine Universitätsbibliothek. In dieser Dämmerungsarchitektur herrscht jene Grabesstille, die der angehende Akademiker für seine Studien braucht (der schaut dann auch nicht mehr auf die Möblierung im Kaufhausdesign).

Im Lesesaal macht sich jene Beklemmung breit, die das Bedeutungsschwangere der Bildung aus den Kellern wilhelminisch-spießbürgerlicher Muffigkeit hervorholt. Und auch die mickrige Cafeteria im Untergeschoß ist nicht dazu angetan, Kultur-Fröhlichkeit aufkommen zu lassen.

Richtig, die Bibliothek ist in hohem Maße frequentiert. Da dürfte jedoch weniger die Architektur zur Animation beigetragen haben als vielmehr das Angebot beziehungsweise die Tatsache, daß die alte, benutzerfreundliche Bücherstube am Wiener Platz im Zuge der Fortschreibung des Projektes Gasteig eliminiert wird.

Sicher, die Idee war (und ist) gut, ist demokratisch: Hoch- und Niederkultur unter einem Dach vereinen zu wollen. Unbestritten hat das Richard-Strauß-Konservaterium neue Räume gebraucht, ging den Münchnem seit langem ein Konzertsaal von der Größe und Güte dieser Philhamonie ab. Warum sollen nicht akademische Leistungen Wand an Wand mit den Weiterbildungsangeboten einer Volkshochschule existieren?! Aber doch nicht in einer solchen Dunkelkammer von Sakralarchitektur.

Wozu, stellt sich die Frage, haben eigentlich jahrzehntelang Baumeister darüber nachgedacht, wie man den Begriff Kultur architektonisch mit Helligkeit durchfluten kann, wenn hier wieder das Anstrengungswürdige und Erhabene zelebriert wird?

Es ist ein Unding, daß die Verantwortlichen sich jetzt gegenseitig auf die Schulter klopfen mit der Begründung, das Kuturzentrum Gasteig funktioniere. Das haben Tempel immer getan.


Veröffentlicht unter dem Titel Da fehlen nur noch die Schießscharten in: Vorwärts Nr. 47, 16. November 1985, S. 21
 
Sa, 12.09.2009 |  link | (1375) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Architektur



Zitatenschatz

Neue Staatsgalerie Stuttgart

Den Anfang der restaurativen Architektur im heutigen Museumsbau machte Alexander von Branca mit seiner Münchner Neuen Pinakothek, einem Kunsttempel mit Burgcharakter. Ihm folgte Hans Hollein, der das Mönchengladbacher Museum Abteiberg zwar weniger pathetisch, dennoch theatralisch genug inszenierte. Und die jetzt, nach siebenjähriger Planungs- und Bauzeit, eröffnete Stuttgarter Staatsgalerie des britischen Architekten James Stirling läßt endgültig die Hoffnung dahinfahren, das rational-transparente Element könne (wieder) Einzug halten in die bundesdeutsche Museumslandschaft: Mit der Neuen Staatsgalerie wurde, wenngleich nicht ungeschickt, eine der erstaunlichsten Sammlungen moderner Kunst zelebrierend verpackt.

Der erste Anblick der 90-Millionen-Mark-Immobilie löst den Gedanken an eine antike Tragikomödie aus, inszeniert von einem Dorfschullehrer, der mal was von Peter Zadek gesehen hat. Gegenüber anderen Kulturgebäuden mit Lagerhallencharakter, von diesen auf Distanz gehalten durch eine sechsspurige Hymne an den Individualverkehr, hat der an Farben und Materialien gar nicht geizige Schotte eine architektonische Skulptur in einen Hang gesetzt, in der Formensprache angesiedelt zwischen einem überdimensionalen Sarkophag und einem zum Schleppkahn mißratenen Ocean-Liner.

Zusammengehalten werden die 2.000 Kubikmeter umbauten Raums aus Beton von einer vorgesetzten Fassade aus Naturstein. Die darangesetzten popfarbigen High-tech-Mätzchen haben wohl den Sinn, dieser Theaterkulisse etwas von ihrer Gewalttätigkeit zu nehmen beziehungsweise dem Besucher zu suggerieren, er begäbe sich jetzt auf einen Spielplatz.

Bevor sich diese neueste bundesdeutsche Kunsthülle entgültig als Kultstätte vermittelt, verabreicht Stirling erst noch einmal eine Beruhigungspille in Form der Eingangshalle. In ihr trifft das durch die geschwungene und gerasterte Fensterfront einfallende Licht auf einen leuchtend grünen Gumminoppenboden, hier wird man gewahr, daß der mehr als wohlbeleibte Architekt auch tänzeln kann.

Komplettiert wird diese Beschwingtheit durch das zunächst einzige Kunstwerk: Duane Hansons Putzfrau sitzt in der Ecke — wie übriggeblieben vom Premierereinemachen. Verziert wird dieser Vorhof zum Rückschritt noch von einem nett anzuschauenden lichtdurchwirkten Kassenrund mit einem Tresen aus Kirschholz, bervor's dann im banal grellen, historischen Skulpturenhof endgültig dunkel wird um die jahrzehntelangen Bemühungen aufklärerischer Architekten, die Museumsschwellen zu senken.

Stirling hat die ‹würdevolle› Feierlichkeit am Eingang sein lassen und einfach nach innen verlegt. In diesem edlen Innenhof muß der Besucher das Gefühl bekommen, das Bedeutungsschwangere müsse ihm jeden Augenblick auf den Kopf fallen. Wer sich dann absatzknallend aus dieser Kulturopferstätte geflüchtet hat, hat die Erholung, die die oberen Galerieräume (zunächst) bieten, auch verdient. Angenehm gegliedert und gereiht präsentieren sie sich, das von oben einfallende, durch leicht milchiges Glas gefilterte Naturlicht verträgt sich gut mit der künstlichen Beleuchtung.

All die Picassos, Schlemmers oder Beuys' verschaffen sich eindrucksvoll Geltung in diesen neutralen Räumen. Doch dann, es wär' so schön gewesen, geben es die innenarchitektonischen Details preis: Konsequenz, Klarheit ist des Briten Sache nicht. Was er unten beim Entrée (listig?) vermieden hat, Portalatmosphäre nämlich, wird oben, aus Holz und weiß gestrichen, an jeden Saaleingang geklebt: Herr Winckelmann und dessen Baumeister Schinkel, deren Klassizismus lassen schön grüßen. Vollends zur Bildungstümelei gerät, was wohl als Appell an das Traditionsbewußtsein gemeint ist: knapp einen Meter lange ‹Bruchstücke› ägyptischer Tempelgesimse in den Übergängen von den Wänden zu den Decken — Versatzstücke alter Baukultur aus dem Warenhaus.

Überhaupt ist dieses Museum, das aktuellste Kunst beherbergt und selbst (zwanghaft) Kunstwerk sein will, ein einziger Zitatenschatz — ein Nachschlagewerk der Architekturgeschichte. Überall wird nachgeäfft, was mal Geschichte gemacht hat. Wenn das, was dieser Radikale (Eklektizist) Stirling alles unter einen Hut gebracht hat, richtungsweisend wird, wird wohl bald, auch gesellschaftspolitisch, das Mittelalter eingeläutet werden.


Schweizer Radio DRS, Kulturmagazin Reflexe; Vorwärts Nr. 14, 29. März 1984, S. 26
 
Sa, 12.09.2009 |  link | (951) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Architektur



Der Blonde mit der großen Klappe

Was im zarten Alter von 16 Jahren mit Lyrik begann, soll drei Jahrzehnte später auf der obersten Sprosse bundesdeutscher TV-Showmeisterei enden. Dann nämlich, stellt sich Thomas Gottschalk vor, könnte aus dem Sonnyboy ein Kuli der Femsehnation geworden sein. Ein gut Teil des Weges hat der jetzt 30jährige schon geschafft: Seit Faschingsdienstag ist Gottschalk mit seinen Telespielen im Abendprogramm der ARD gelandet. Zuvor hatte er die unterhaltsame «45-Minuten-Kiste» (Gottschalk) bereits erfolgreich im dritten TV-Programm des Bayerischen Rundfunks moderiert.

Zum erstenmal im Rampenlicht stand der gebürtige Bamberger 1965 beim Schlesiertreffen in Kulmbach, wo sich die Eltern mit Landsleuten trafen. Da hat Tommy Gedichte aufgesagt. Zu Hause hörte er allerdings lieber «unheimlich viel Radio», meistens RIAS Berlin und BBC London. Nicht verwunderlich, daß er es bei diesem Zeitvertreib auf zwei Ehrenrunden am humanistischen Markgraf-Georg-Friedrich-Gymnasium brachte, zumal er nach eigener Einschätzung in allen naturwissenschaftlichen Fächern «furchtbar dämlich» war. Nur in Deutsch lag er überm Durchschnitt. Häufig kommentierten die Lehrer seine Aufsätze so: «Sie verstehen es ausgezeichnet, weitgehende gedankliche Leere durch sprachliche Stärke zu verdecken» — eine Fähigkeit, von der sich die Bayern noch heute täglich in der Gottschalk-Sendung Pop nach acht überzeugen können.

Auf jeden Fall half dem einszwoundneunzig langen Blonden mit der großen Klappe seine Beredsamkeit auf die zweite Sprosse. 1971 bewarb sich Gottschalk beim Bayerischen Rundfunk, dessen Junge Welle einen Diskjockey-Wettbewerb veranstaltet hatte. Mutig schrieb er auf den öffentlich-rechtlichen Vordruck: «Man merkt es Euren Diskjockeys an, daß Ihr sie per Fragebogen sucht.» Sie haben ihn aber trotzdem genommen — beim Jugendfunk.

Bald wurde es dem Jungredakteur jedoch zu blöd, Nachrichten und Programmhinweise zu verlesen und zu sagen: «Jetzt schauen wir für Sie auf die Studiouhr ...» Er sagte lieber: «Jungs, es ist fünf nach acht.» Und damit war's für ihn Pop nach acht. Und Zeit für die ARD, ihm dafür den Kurt-Magnus-Preis zur Förderung journalistischen Nachwuchses zu verleihen. Schließlich kamen Gottschalk die Plattensprüche so locker über die Lippen, daß auch das Fernsehen aufmerksam wurde: Der Bayerische Rundfunk engagierte ihn für die Teenybopper-Sendung Szene 77 im dritten Programm. Daß er jetzt populär ist, findet er vor allem anstrengend. Heute versteht Gottschalk die Leute, die sich im Münchner Nobelviertel Grünwald «hinter einer Hecke verschanzen». Obwohl er das eigentlich immer noch beknackt findet. Genauso wie bei beruflichen Einsätzen einen Mercedes zu fahren. Den stellt er vor Gastspielen in Diskotheken immer eine Ecke weiter ab. Fürs Private hat er einen Morgan und eine Wohnung hoch oben über den Dächern von Münchens neuem In-Viertel, dem Lehel. Und eine Ehefrau («keine Karrierefrau» übrigens). Wenn's die nicht gäbe? Dann wäre er «wahrscheinlich nur ein unzufriedener Diskotheken-Schisser».

Zukunftängste kennt er nicht. Er geht auf Nummer Sicher. Schließlich will er ja der Kuli der neunziger Jahre werden.


Playboy 3.1980, S. 217, Mann im Gespräch
 
Mi, 09.09.2009 |  link | (898) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Film und Fernsehen



Mit Angst vorm Publikumserfolg

München hat die größte deutsche Privattheater-Szene, so war das jedenfalls in den Siebzigern und auch noch später — ein Rückblick auf die Spielereien der Saison des Jahres 1980.

Das Münchner Privattheater ist brav und langweilig, ist lasch, kraftlos und saftlos geworden. Kein Risiko mehr, keine Sinnlichkeit, niemandem weh tun, die Zuschauer möglichst einlullen. Es gibt keine Verrisse mehr, kaum noch Eklats, kaum noch fliegen die Fetzen. Es hat sich alles eingependelt auf ein wohlanständiges Maß an Neuheit.

Diese gar nicht ‹wohlanständige› Meinung ist die von Mathias Eysen, jemand, der sich auskennt in der Münchner Privattheaterszene: Er leitete von 1968 bis 1972 das Schauspiel München, an dem Regisseure wie Jürgen Flimm, Andreas Fricsay oder Gerd Pfafferoth inszenierten und andere Theaterkoryphäen wie Otto Sander oder Benjamin Henrichs darstellerisch oder dramaturgisch mitarbeiteten. So will denn der Schauspieler und Regisseur Mathias Eysen aus der Not eine Tugend machen, dem Münchner (Theater-)Maß die Wohlanständigkeit nehmen, mit den Brettern, die (vor allem in München) so vielen die Welt bedeuten, eine neue Bühne zimmern — wieder selber machen.

Gedränge am Subventionstopf

Vorausgesetzt, er würde ein festes Haus beziehen können, wäre dies dann eines von mehr als 30 Klein- und Kleinsttheatern der bayerischen Metropole; keine andere bundesdeutsche Großstadt bietet (quantitativ) mehr. Welche Fachleute man auch immer befragt, keiner weiß so recht, warum in München so viel Theater gemacht wird. Und die Zahl derer, die sich um den Subventionstopf versammeln, die auch was abkriegen wollen von der barmherzig anmutenden Million pro Jahr, vermehren sich zusehends.

Wilfried Passow, akademischer Oberrat am theaterwissenschafttichen Institut und gewählter Vertrauensmann der Privattheater im sechsköpfigen Beratergremium für die Vergabe von Zuschüssen, sieht dieses Frühlingserwachen in dem Humus, der München für Theater darstellt. Die Zusammensetzung dieses Nährbodens erklärt sich in erster Linie in der Attraktivität der Stadt für Schauspieler; pausenlos wird hier produziert: Film, Fernsehen, und eben Theater. Die Stadt mit dem ‹hohen Freizeitwert› ist ein Auffangbecken vor allem für junge, meist gerade von den Schauspielschulen kommende Akteure. Und es ist immer noch besser, an einem Mini-Theater zu spielen als an gar keinem Theater. Es gibt zwar kein (oder nur sehr wenig) Geld, dafür aber Presse. Vor allem die beiden Münchner Boulevard-Zeitungen AZ und TZ schwärmen hier allabendlich aus, und auch die Süddeutsche Zeitung beteiligt sich rege an diesem permanenten theatralischen Wettkampf. Und die Zahl der Regisseure, die im «Millionendorf» zumindest einen Zweitwohnsitz haben, ist nicht minder beträchtlich.

Dem provokativ gemeinten Adjektiv ‹wohlanständig› von Mathias Eysen ist indes nur bedingt zu widersprechen. Der von der Literatur geprägte 8egriff Neue Innerlichkeit trifft auf die meisten der Münchner Privatbühnen zu. Die Programmpolitik dieser Theater spiegelt im wesentlichen das, was man hierzulande Volksempfinden nennt, und das Volk empfindet zur Zeit nunmal in erster Linie sich selbst, betreibt Vergangenheitsbewältigung. Aber das ist kein Blick zurück im Zorn, es ist in erster Linie Identitätssuche. Die Auseinandersetzung findet kaum mehr im formalen Bereich statt, gut zwei Drittel der ‹führenden› Privattheater holen sich ihre Impulse aus dem kleinen Kammerspiel. Diejenigen, die den großen institutionalisierten Häusern Impulse geben, sind in der Minderzahl. Und das Münchner, (noch) überwiegend jüngere Publikum nimmt dankbar an und geht wieder mehr ins (Privat-)Theater.

Der Trend zur publikumsorientierten Programmpolitik wird forciert durch die Subventionspolitik der Münchner Ratsherren. In dem von der CSU nach der Rathausübernahme 1978 erstellten ‹Kriterienkatalog› — von Passow allerdings als «fern der Realität» bezeichnet — wird eine Förderungswürdigkeit in Punkt 3 von der «Anzahl der Aufführungen pro Jahr» und in Punkt 5 von der «Anzahl der Sitzplatze und ihre Auslastung» abhängig gemacht. Demnach bekommt der, der ohnehin schon hat — mehr Zuschauer, ergo mehr Geld.

Alexeij Sagerer vom Prozessionstheater (ProT) kommentierte das in der für ihn (theater-)typischen Art: Entweder «Ein Theater hat viele Sitzplätze, aber ganz wenig Besucher, es braucht also ganz viele Subventionen, um die vielen Sitzplätze finanzieren zu können; oder: Ein großes Theater kriegt mehr Subventionen als ein kleines Theater, weil ein großes Theater etwas größeres ist als ein kleines Theater und der Unterschied durch die Subventionen noch verdeutlicht werden soll.»

Sagerers ProT, dem alten bayerischen Theaterspiel verschrieben, bekam 1979 45.000 DM. Fast möchte man meinen, er bekäme deshalb so ‹viel›, weil das Exotische etwas ist, das man nicht kennt und man deshalb so viel Geld dafür ausgibt. Dabei (und da setzt Erstaunen über die ‹Konsequenz› der Forderung ein) ist das ProT in der Schwabinger Isabellastraße ein Winzling zwar an Theater, gleichwohl Sagerer keiner, wenn es darum geht, denen da oben (aber auch denen da unten!) ihre politischen Aussagen und Taten aufzurechnen. Aber der gebürtige Niederbayer tut das so verquer, daß man schon sehr konzentriert in sein Theater gehen (und zuhören) muß, um nicht einfach nur darüber lachen zu müssen, es eben auch verstehen zu können.

Aber mit der Beurteilung künstlerischer Leistungen tun sich die Münchner (Kultur-)Politiker insofern nicht schwer, als in seltensten Fällen einer aus ihren Reihen die Pforten dieser gar nicht so heil'gen Hallen durchschreitet. Sogar Hellmuth Duna, Leiter des (nicht subventionierten) T(h)eater in der Briennerstraße, der sich in seinem Boulevardtheater mit Jean Anouilhs Colombe oder Die weiße Taube «übernommen» hat, weil seiner Meinung nach «für das Münchner Publikum zu anspruchsvoll», klagt's: «Sie gehen ja nicht ins Theater, die Politiker.» Keine Zeit, hieße es meist, aber immer wieder lese man in den Zeitungen, daß sie mal wieder beim Starkbieranstich eine führende Rolle gespielt hätten. «Und bei einem Galaabend in der Nationaloper, natürlich ...»

Die Privaten arbeiten billiger
So stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die 200.000 DM verteilt werden, die dem Subventionstopf von einer Million vorab für «besondere künstlerische Leistungen» entnommen werden. (Dabei ist ein subventionierter Privattheatersitzplatz um einiges billiger als einer im Stadt-, Staats und Landestheater; die kleinen kosten im Schnitt fünf, die großen 65 Mark pro Jahr.)

Eine der kleinen Bühnen, die ihrer politischen Denkart gemäß immer wieder anecken und deshalb regelmäßig das große Subventionszittern bekommen, ist das Theater k in der Schwabinger Kurfürstenstraße. Dabei steht das k keineswegs für ‹kommunistisch›, wie viele schlicht Informierte meinen. Es steht, so Wolfgang Anraths, für das k-ollektiv, das er leitet, und zwar organisatorisch. Mit Kinder- und Jugendstücken immer wieder auf Tournee, ist das Theater k längst ein Begriff über die Grenzen Bayerns und auch der Bundesrepublik Deutschland hinaus geworden. Aktuelles politisches Theater ist der Schwerpunkt des Programms, etwa (zunächst parallel zum Schriftstellerkongreß) das Programm Dichter zwischen Krieg und Frieden, eine Collage aus Texten von Ernst Toller, Johannes R. Becher und Heinrich Mann.

Ebenfalls «Theater in sozialer Verantwortung» macht das Theater in der Kreide, kurz TIK genannt. Seit 1975 verfügt die 1973 gegründete Truppe über ein festes Haus — weit draußen am südlichen Stadtrand Münchens, in der Satellitenstadt Neu-Perlach. Dorthin wollte man nämlich Theater tragen: Von Shakespeare bis Brecht, von Revuen bis selbstgeschriebenen Stücken.

Die vorletzte Produktion, Brechts Dreigroschenoper brachte einen «fatalen» Erfolg. Nachdem gar in Pariser Zeitungen Lobeshymnen gesungen wurden, tauchten in Neu-Perlach, so Joachim Hall vom Fünfer-Direktorium, «die Nerzjäckchen und Abendkleider auf». Ein Jahr lang wurde die Dreigroschenoper en suite gespielt, und das ist es nicht, was das TIK will: en suite spielen. Neue Stücke müssen her.

Ähnlich ging es dem Theater am Sozialamt (TamS). Das Problem ‹neues Publikum› formulierte Anette Spola so: Sie sei ja sehr erfreut über das auf Monate hinaus ausverkaufte Stück Stan und Ollie in Deutschland (das Urs Widmer für das TamS schrieb, mittlerweile von drei großen Bühnen übernommen), aber das Stammpublikum bliebe draußen, das nämlich bestelle nicht vor.

Das fünfte Rad an diesem Thespiskarren ist das Freie Theater München. Kaum ein berühmtes Festival, das diese Truppe noch nicht bespielt hat: Edinburgh, Nairobi, Caracas, Nancy, Paris, Reykjavik und so weiter. Nach dem totalen Erfolg auch in der namensgebenden Stadt entzogen sich die beiden Initiatoren des FTM dem Zwang, den solcher Ruhm mit sich bringt: sie gingen aus dem festen Haus in der Haidhausener Wörthstraße in eine leerstehende Fabrikhalle in der Dachauer Straße. Georg Froscher und Kurt Bildstein war die Gefahr, zur Institution zu werden, zu groß geworden.

Gewicht auf Spielpädagogik
Jetzt entsteht, «professioneller als früher», so Froscher, wieder das, was für das FTM charakteristisch ist: die Verbindung von Spielpädagogik mit Theaterarbeit. Da heraus, nicht aus der Theaterliteratur, entstehen die Produktionen des FTM, der sicherlich einzigen Privatbühne in München, die für ‹gelernte› Schauspieler nicht Anlaufstation ist. Mit denen kann George Froscher nichts anfangen, «weil sie mit sich selber nichts mehr anfangen können».

Von den erwähnten rund 30 Münchner Privattheatern können (und dürfen) 12 bis 15 das Prädikat ‹anspruchsvoll› für sich verbuchen. Die hier vorab genannten und ausführlich beschriebenen allein deshalb, weil sie versuchen, eigene Wege zu gehen, Formen abseits des konventionellen Theaters zu finden. Das sind die kleinen Bühnen, die den großen Impulse geben, weil sie es geschafft haben. Die anderen machen mehr oder minder gewollt oder bewußt ‹kleines Kammerspiel›. Die einen hören's gern, die anderen weniger

Kaum einzuordnen ist das Studiotheater von Gunnar Holm-Petersen (und Beles Adam), der früher in Saarbrücken als Schauspieler engagiert war. Sein neuestes Experiment ist die Zusammenarbeit mit dem alten Fassbinder-Kreis: Peer Raben, Kurt Raab und Volker Spengler, der im Studiotheater auch sein Regiedebüt mit Genets Gefängnisstück Unter Aufsicht gab. Und zur Zeit munkelt man gar, daß in der Schwabinger Ungererstraße das Fassbindersche Anti.Theater wiederbelebt werden soll.

Mit zufriedener Miene nimmt Boris von Emdé die Titulierung ,«Kleines Kammerspiel» entgegen. Sein Publikum im zentral gelegenen Theater am Einlaß will: lonescos Stühle, Strindbergs Fräulein Julie, Williams Glasmenagerie. Uta Emmer vom Modernen Theater schaut mit Osbornes Blick zurück im Zorn nach einjähriger Pause im neuen Haus in die Zukunft. Das Off-Off-Theater, nach dem Weggang seines spiritus rector Kelle Riedl von Maddalena Kerrh alleine betrieben, greift nach Stoffen wie Steinbecks Von Mäusen und Menschen oder dem Leben der Isadora Duncan. Im dienstältesten Münchner Privattheater, dem Theater 44 von Horst A. Reichel, immer wieder Camus und Sartre, zur Zeit die Geschlossene Gesellschaft. Und dann natürlich die Komödien, die Boulevard-Theater: Die Kleine Komödie, Theater Die kleine Freiheit, das lntime Theater, das T(h)eater in der Briennerstraße, Stücke von Ambesser, Shaw, Forbes, Anouilh und wieder Shaw. Dort spielen die Akteure, die man vom Fernsehen her kennt, teilweise Schauspieler mit Monatsgagen, die den Jahresetat so manches Kleintheaters ausmachen.

«Bekannte Gesichter ...»
Zwei relativ neue Privattheater seien in dieser Auswahl noch erwähnt, die sich ebenfalls zusehends in die Gunst des Publikums spielen: Das Theater rechts der Isar in den alten Räumen des FTM, wo seit März Dario Fos Zufälliger Tod eines Anarchisten auf dem Programm steht. in den Räumen der Universität spielt das Furore Companietheater Bekannte Gesichter/Gemischte Gefühle von Botho Strauß.

Mit den Titel dieses an großen Häusern überaus erfolgreichen Stücks ließe sich auch die derzeitige Situation der Münchner Privattheater-Szenerie umschreiben. Die kleinen Bühnen finden immer mehr Anerkennung in ‹gebobenen› Theaterkreisen, was zur Folge hatte, daß Regisseure der Stadt- und Staatstheater einen ‹Markt› für sich entdeckten. Viele dieser lonescos und Osbornes sind von ihnen inszeniert, beispielsweise von Claus Landsittel oder von Andreas Fricsay. Und so regen sich bei manchem Betrachter gemischte Gefühle: Eine auf Zuschauerzahlen ausgerichtete Subventionspolitik fördert eine Entwicklung, die den freien Theatern abträglich sein dürfte: Je mehr solch ein Mini-Theater zur Institution wird, desto weniger kreativ ist seine Arbeit. ln München zum Beispiel hat es das Stück eines unbekannten Autors oft sehr schwer.


Saarbrücker Zeitung Nr. 86, Samstag/Sonntag, 12./13. April 1980, Feuilleton, Seite I

 
Do, 03.09.2009 |  link | (5653) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Dramatisches



la chose micmac

Hierbei handelt es sich um einen Umzug in das hiesige gastliche Haus.
Die Gründe dafür sind hier angegeben.


Hier konserviert micmac sich selbst. micmac bedeutet Mischmasch, auch pêle-mêle geheißen (gleichermaßen aber auch Intrige!). Es charakterisiert mich am ehesten: Intriganter Mischmaschling.

Viel passieren wird hier jedoch nicht. — la chose: die Sache, das Ding dient primär als Archiv von Texten, teilweise steinzeitkohlenalt, auch gerne denjenigen zur Verfügung gestellt, die mal schauen möchten, was früher am Rande (das Zentrale, das Erhabene ist anderenorts gesichert) so abging, als sie noch nicht gehen konnten. Sie werden — und (endlich darf ich) chronologisch wirr durcheinander — nach und nach aus den Tiefen der Zeit nach oben befördert, auf daß die Erinnerung in neuem Licht erstrahle. Wenn das Riesenloch aufgefüllt ist, das die Zeitläufte hinterlassen haben, kommt vermutlich auch Jüngeres hinzu; es liegt in der Natur eines Umzuges, daß dies dauern wird.

Zu mir: Ich bin Gründungsherausgeber des im Februar 1988 erstmals erschienenen Kritischen Lexikons der Gegenwartskunst, betreute es bis zum Jahresende 2006 auch redaktionell verantwortlich. Ebenfalls gegründet und herausgegeben sowie redaktionell verantwortlich betreut habe ich das Laubacher Feuilleton, ein von 1992 bis 1996 fünf Jahre lang im Blätterwald flatternder Winzling. Aber wie das eben so ist mit den Kleinen: Irgendwann kriegt man sie nicht mehr gepackt ... 1999 begründete ich mit Christina Schellhase und in deren gleichnamigem Verlag (wo auch das Laubacher Feuilleton zuhause war) Kurzschrift. Für die Freunde der Langschrift. Letzteres ruht so für sich hin, gleichwohl immer irgendwie innerlich in Bewegung. Für unsere Druckschriften haben wir mittlerweile einen angemessenen Archivhof gefunden (der sich ebenfalls auf dem hiesigen Gelände befindet): weiterblättern.

Vor alldem und mittendrin war ich das, was ich nun, nach meiner Privatisierung, wieder bin: als Kunst- sowie Kulturpublizist unterwegs (Mitglied von aica = Association Internationale des Critiques d'Art: Internationaler Kunstkritikerverband), allerdings mehr flanierend denn, wie in früheren Zeiten, alles mögliche durchwuselnd oder gar -rasend. Meine Fix- und Ruhepunkte sind Hamburg und der Rand von Marseille: l'Estaque. In ersterem bewacht mich die Familie, in letzterem blicke ich gelöst auf die (manchmal) gerinnende Zeit.
 
Do, 03.09.2009 |  link | (2584) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Innerlichkeiten











la chose ist das hierher umziehende Archiv von micmac.
Letzte Aktualisierung: 30.10.2015, 04:39



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