Vom Stempel zum Pixel

Die Welt verstehen wollen

Über Michael Badura

Bild 8 [vergrößern] aus der Serie In Bruchteilen von Sekunden, 2005 – 2006

«Ja, Künstler nennt Ihr mich, weil ich nur künstele. Weil ich nur so tun soll als ob, weil ich nur so tun kann als ob. Ihr tut so, als ob Ihr meine Arbeit schätzt, weil Ihr glaubt, daß sie nichts mit den tatsächlichen Realitäten zu tun habe. So haltet Ihr mich hinter vorgehaltener Hand für einen lustig-bizarren Spinner. So soll ich sein: Ein Häufchen Seele, ein tanzendes Irrlicht, ein buntschillerndes Bläschen, ein weltfremder Tropf.»1

So in etwa könnte Michael Badura sich auch im Januar 2007 geäußert haben, in seinem Haus im Bergischen Land am Rand von Wuppertal, wo er an der Universität Kunst gelehrt hat. Denn auch wenn diese Schimpftirade weit über 20 Jahre zurückliegt, so spiegelt sie nach wie vor sein Denken, sein Tun. Möglicherweise ließe der bald Siebzigjährige (2008) es heute etwas (alters)weiser angehen, doch inhaltlich hat sich nichts an dem geändert, über das er 1984 gewettert hat: «Doch wehe, ich mische mich ein, in Eure Realitäten. Wehe, ich berühre die Gleichgültigkeit und die Solidarität der (Geld-)Macher und Sortierer, der Verwalter und Vollstrecker. [...] So habe ich zu bleiben: Ein manischer Schweber ohne Bodenhaftung, ein herumirrender Derwisch.»2

Die fehlende Bodenhaftung hat man ihm in den sechziger und siebziger, aber auch noch in späteren Jahren vorgehalten. Und wenn das heutzutage nicht mehr so lautstark geschieht, dann dürfte es daran liegen, daß Michael Badura keine Schlagzeilen mehr produziert, sondern abseits des Rummels arbeitet. Still, jedoch keineswegs ‹zurückgezogen›, tut er das, was er immer tat und weiterhin tun wird: künstlerisch die Welt ergründen. Doch diese Welt ist nicht etwa eine andere als die unsere, schon gar kein Mikrokosmos, der eine künstlerische Erdachsenverschiebung erfahren hat. Sie ist allerdings auch nicht diejenige, die nach ökonomischen Wertungen aufgeteilt worden ist in erste, zweite und dritte und vierte Welt oder gar in Länder an Schwellen — zur Weltmarkt-Glückseligkeit. Die Freuden der globalisierten Ökonomie tragen nicht unbedingt zu Baduras Hochgefühl bei. Diesem Bodenständigen ist eher am Erhalt dessen gelegen, in dem wir leben, rubriziert vielleicht unter Ökologie; jenem Begriff, der vermutlich bald so plattgetreten sein wird wie der der Esoterik.3 Ökologie bedeutete ursprünglich nichts anderes als die Lehre vom Haus-Halt(en).4

Mit dieser Art des Haushaltens hat sich Michael Badura von jeher beschäftigt. Und zwar lange, bevor so manch eine Vorfeld-Grüne oder ihr männliches Pendant das Wort Ökologie etymologisch bzw. präparlamentarisch überhaupt gehäkelt bekamen. Bereits 1964 entwickelte Badura ein ‹ökologisches› Laboratorium, in dem künstlerisch ‹forschend› eine ‹Versuchsanordnung› «‹aller› puren Natursubstanzen und -verbindungen sowie ‹aller› denkbaren Vermischungen, Verschmutzungen, Vergiftungen durch chemische und widernatürliche Stoffe und Verbindungen»5 angelegt wurde. Die Eingeweckte Welt wurde im Februar 1967 erstmals in der Göttinger Galerie im Center gezeigt. Dazu schrieb Badura eine fiktive Reportage6, in der die bereits deutlich erkennbare, «unumkehrbare»7 Umweltzerstörung beschrieben war. 1967, das war das Jahr, als man in Paris, Berlin und anderswo sich anschickte, intensiver als zuvor das Jahr vorzubereiten, in dessen Folgezeit sich außerordentliche gesellschaftliche Veränderungen ergeben und das als das Geburtsjahr der 68er in die Annalen eingehen sollte. Die dem Rot der Außerparlamentarischen Opposition, bekannter unter dem Kürzel APO, nachfolgende Farbe Grün sollte als Hoffnungssymbol noch lange dem Poesiealbum vorbehalten sein. Michael Badura hatte die Hoffnung allerdings bereits fahren lassen. Schon 1966 war er ausgewandert:

«Ich bin auf dem Mond geboren. Es ist nicht lange her, da verließen meine Vorfahren und mit ihnen viele andere Menschen die Erde, weil sie ihnen anfing unbewohnbar zu werden.
Hier auf unserer Mond-Erde sind wir mittlerweile über alle existentiellen Schwierigkeiten hinweg, und es gibt für uns kaum noch Probleme — es sei denn, wir erfänden uns welche zum Zeitvertreib.»8

Das Haus der deutsch-japanischen Familie Badura im Bergischen Land: Das Thema Natur bedarf keiner weiteren Erwähnung. Es ist sichtbar. Das 4.000 Quadratmeter große, terrassenförmig angelegte Hanggrundstück klärt auf: Hier wird alles zugelassen, durchaus auch eine gewisse ‹Reglementierung› von Natur. Hier gehört jede Pflanze, jedes Tier, ob einheimisch oder eingewandert, zur zu verstehenden Welt.

Es gilt jedoch, Mißverständnisse zu vermeiden. Durch dieses Haus schlurft niemand birkenstockartig. Es wird diskutiert, bisweilen gestritten. Es geht ebenfalls um tagesaktuelle Politik. Badura empfindet sich vom Ansatz her «eigentlich» als Anarchist. Wenn auch alles andere als ein schwarz gewandteter Steinewerfer, sondern sehr vielmehr einer im ursprünglichen, im späten 18. Jahrhundert entstandenen Sinn des Begriffes: der herrschaftlosen, gleichberechtigten, aber immer gewaltfreien Gesellschaft.9 Michael Badura wäre, lebte er nicht in der Jetztzeit, durchaus dem Umfeld eines Diderot, eines d'Alembert, eines Voltaire zuzuordnen, den französischen Enzyklopädisten, die sich Mitte des 18. Jahrhunderts der Aufklärung verschrieben hatten.10

Diese Aufklärer haben quasi die Sprache der biblia pauperum, der Armenbibel umgekehrt, die mit bestimmt war für diejenigen, die nicht lesen können. Sie haben die Bilder übersetzt in Sprache — die für immer mehr Menschen langsam zugänglich geworden war. Badura kehrt es quasi um bzw. bezieht sich auf seine (künstlerische) Kraft des Sichtbarmachens. Nachdem immer weniger Menschen die Sprache beherrschen und immer mehr Bilder gucken, bedient er sie. Er kehrt den zunehmenden Analphabetismus des tumben, unreflektierten Bildkonsums um zugunsten des genaueren Hinschauens. Anders, als weiland Diderot ff. das Bild in Sprache übertragen haben, setzt er nun als Fährmann das Bild über ans Ufer des Unterscheidungsvermögens.

Michael Badura ist Konzept-Künstler, jedoch nicht «so akademisch wie Klaus Honnef», nicht im Sinne der US-amerikanischen Concept Art. Lange bevor die Concept Art als künstlerischer Stil begriffen worden war, hat es «sehr viele Bestrebungen bei Künstlern [gegeben], sich konzeptuell auszudrücken gegenüber einer akademischen, traditionellen Kunstausübung». — «Weil man gemerkt hat», so Badura weiter, «daß das Gedankliche, Ideenmäßige zu kurz kam zugunsten traditioneller Bildtechniken.»

Hier setzt die Kunst von Badura an, in Umsetzung einer disziplinüberschreitenden Methode, genauer: dem des Versuches, die Welt als Gesamtes zu verstehen, indem er sie — nicht als Forscher und auch nicht als Philosoph! — untersucht. Das geschieht: «Indem man sich mit ganz bestimmten Aspekten gezielt beschäftigt, man versucht, sie [die Welt] vor sich hinzustellen. Sich etwas vorzustellen, ist ja eigentlich das künstlerische Prinzip. Ich stelle etwas vor mich hin, um es erst richtig sehen zu können, das heißt, ich trenne es, ich löse es aus dem Gesamtzusammenhang, um es besser betrachten zu können.» Wir kennen das vom Betrachten einer Skulptur oder Plastik: nur das Herumgehen um diese ermöglicht uns den Blick auf Einzelheiten. Oder anders, die Kindheitserinnerung: Wir haben bisweilen das an der Wand hängende Bild angehoben, um zu erkunden, ob sich ‹etwas› dahinter befindet. Dieses Erkennen, Finden ist es, das Badura antreibt.

Des Findens, zunächst einmal des ‹Geheimnisvollen› oder auch des ‹Reichtums› wegen, deshalb lief Badura als Junge im oberfränkischen Fichtelgebirge11 durch den Wald, klopfte mit dem Hammer Steine auf, «weil ich der naiven Hoffnung war, ich könnte irgendwann eine Goldader oder eine Silberader» entdecken. Später wollte er Ornithologe werden. Dann hat er alles — Gefieder, Bäume, Flüsse, Landschaften — «abgemalt». Wieder aufgenommen hat er diese kindliche Tätigkeit dann als wissenschaftlicher Zeichner im Alter von 23 Jahren (als Gastdozent) an der Kasseler Werkunstschule. Das setzte sich fort an der Göttinger Universität. Die dort bis 1973 produzierten Lehrtafeln — Amöben bis hin zu ‹höheren› Tieren — hängen noch dort bzw. sind archiviert. Und nachdem ihn das zu «langweilen» begann, wechselte er zu den botanischen, den zoologischen Instituten. Daraus ergab sich: «Mein Zimmer befand sich zwischen den ganzen naturhistorischen Präparaten, so daß ich von daher ganz selbstverständlich auf die Arbeit der Eingeweckten Welt gekommen bin, indem ich dann die ganze Welt speichern wollte, so ähnlich, wie sich das ja eigentlich in einem naturwissenschaftlichen Museum auch zeigt.» Über diese Eingeweckte Welt schreibt Michael Fehr:

«[...] eine wirkliche Versuchsanordnung, in der Badura anfangs in fünfzig, später in über hundert Gläsern verschiedene Stoffe konkret miteinander reagieren läßt — und damit ein realistisches Bild unseres Umgangs mit der Natur entwickelt, das sich nur noch im Maßstab von unserem realen Operieren in der Welt unterscheidet. Zum anderen ist die Eingeweckte Welt aber eine Fiktion; die Geschichte eines auf dem Mond Geborenen, den seine Neugierde zur Erde treibt, um dort die Verschmutzung und Vergiftung zu studieren, wegen der seine Vorfahren die Erde verließen; eine Fiktion, die realistisch gemacht wird durch die konkreten biochemischen Reaktionen in den Einmachgläsern; die aber ihrerseits wieder fiktionalisiert werden über Beschreibungen und Geschichten, die Badura dem Geschehen in den einzelnen Gläsern zuordnet.»12

Die Initialisierung des baduraschen künstlerischen Forscherdrangs fand statt, als ihm 1963 im südniedersächsischen Barlissen die Bauern erzählt hatten, ihre Kühe könnten das Wasser aus dem Flüßchen Dramme nicht mehr trinken. Die Gründe dafür lagen in der Verseuchung durch Tetrachlorkohlenstoff, damals Bestandteil von Schädlingsbekämpfungsmitteln. Und als sich schließlich die daraufhin angesprochenen Wissenschaftler außerstande sahen, dagegen etwas zu unternehmen und sich stiekum wieder ihren alltagsabgewandten Studien zuwandten, thematisierte Badura auch diese Problematik. — «Wir fühlen», schrieb Ludwig Wittgenstein, «daß selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.»13

Doch auch an diesem Punkt gilt es, Mißverständnissen die Nahrung zu nehmen. Badura ist kein verhinderter Naturwissenschaftler. Der ist für ihn jemand, «der im Zerkleinern der Welt einen Selbstzweck sieht. Man kann viele Erkenntnisse nur gewinnen, indem man eine Sache kaputt macht. Ich versuche, die Sache intakt wahrzunehmen. Das Verstehen [von Welt] heißt eigentlich, ein friedliches Ansehen wahrnehmen, im Gegensatz zu der Erkenntnis, die durch Zerstörungszwecke kommt, wie das bei Naturwissenschaften häufig der Fall ist.»

Schon Schopenhauer meinte: Die Welt als Vorstellung, sofern sie dem Ursachen- bzw. Endprinzip unterworfen sei, sei Objekt der Wissenschaften, im anderen Fall Gegenstand der Kunst.14 Damit räumte er mit Hegels Idealismus-Anspruch auf. Gott, Paradies, Wahrheit waren dahin. Wie später bei Michael Badura. Der ist eher der Wirklichkeit zugeneigt. Für ihn, sagte er, sei entscheidend, «daß ein Künstler eigentlich ein Realist sein sollte, im Sinne von Leonardo da Vinci, im Sinne eines möglichst totalen Verständnisses als Ausgangspunkt von allem». Der Vergleich mit da Vinci entspringt keiner obsessiven Eigenein- oder gar Überschätzung von Genialität. Badura bezieht sich in diesem Zusammenhang schicht auf das zu Entdeckende, das (Er-)Finden. (Farbdossiers Freunde, Bekannte und Arschlöcher, 1977 – 1980)

Im Jahr von Big Brother, von George Orwells Buch 198415 hatte Badura im Wuppertaler Von der Heydt-Museum die Ausstellung Büro eingerichtet, deren Konzeption 1977 einsetzte: «Ein Ort, an dem Menschen zu Akten und das Leben zu bürokratischem Unrat dahinwest. [...] Der Einzelne in der Mühle unwürdiger Systeme, in der Mühle objektiver Zerkleinerung. [...] Nicht unbedingt immer als Ausdruck sadistischer Böswilligkeit, sondern oft schlicht nur als Ausdruck von Phantasielosigkeit und lähmender Unfähigkeit an sich, die jeweilige Wirklichkeit in den Griff zu nehmen.»16

Er hatte den ‹Großen Bruder› während eines Spaziergangs in der Auslage eines Fachbetriebs für Bürotechnik entdeckt. Nicht ihn persönlich, sondern, wie Badura erzählt, dessen Werkzeug, seinen «langen Arm und den langen Atem». Commodore war der Name des ersten Rechners, der zur privaten Nutzung auf den Markt gekommen war, und kein «Zweifel, der Computer war das ersehnte Werkzeug für die Bürokratie an sich und die Mächte dahinter, auch wenn es zunächst nur wie ein abseitiges Spielzeug daherkam».17

Als die Allgemeinheit etwa ab 1990 begann, mit Computern zu arbeiten, erhielt sie meist bereits entsprechende Software mitgeliefert — auf daß diese Rechner (zunächst einmal) wenigstens als ‹verlängerte Schreibmaschine› zu nutzen waren. Doch als Michael Badura 1984 seinen Commodore kaufte, ging zunächst einmal gar nichts. Sogar seine vielen, seine Kunst begleitenden Texte mußte er seinerzeit nach wie vor in die gute alte Reise-Olympia tippen. Dennoch war der lediglich auf 0+1 basierende Rechner das adäquate Werkzeug. Man mußte lediglich damit umzugehen lernen. Und so begann Badura sich in die Technik des Programmierens einzuarbeiten. Die ersten Ergebnisse, Eins und Null digital zusammenzuzählen, waren allerdings verblüffend.

Denn es sollte sich bald zeigen, wie ausgeprägt Michael Badura digtitale Zeichen zeichnerisch bereits vorweggenommen hatte. In Alexanderschlacht aus dem Jahr 1958 wird das bereits erkennbar. Es setzt sich fort in Organisationen mit Schwerkraft aus den Jahren 1962 bis 1964.

Und auch die Stempelbilder verweisen bereits auf die Pixel, mit denen Badura ab 1984 arbeiten würde: Mit winzigen Quadraten überstempelte er er alte Meister, Skulpturen von Auguste Rodin oder Gemälde von Caspar David Friedrich. Im Vordergrund stand dabei das Erzeugen gleichförmiger Maße, die auch in der Masse identisch blieben. Eben die ‹Die Verkleinerung des Lebens›, die Reduktion auf das Kleinstmögliche.

«Das digitale Prinzip», so Badura, «ist ein Treppenprinzip, vergleichbar dem Schiffchenversenken, also von gleichen Teilen, die [...] senkrecht, waagerecht, endlos aneinandergereiht sind, im Gegensatz zur organischen Form. Das ist auch eigentlich der Punkt, wo die Geister sich tatsächlich unterscheiden und wo auch Feindschaften entstehen.» Denn die Welt würde «vereckt». Durch die Digitalisierung würden (organische) Rundungen vermieden bzw. ausgeschlossen. Badura nennt solche Abläufe gar einen «Brutalisierungsprozeß, der mit der Digitalisierung anfangs visuell verbunden war».

Auf die Babylonier hebt Badura dabei ab. Babylonien: Sumerer, Amurriter, Hurriter oder Kassiten. Sie waren es, die in der Zeit zwischen 3500 und 1000 vor Beginn unserer Zeitrechnung in Mesopotamien nicht nur für die vielzitierte verbale Verwirrung sorgten, die heute noch gerne als ‹Anmaßung des Menschlichen› herbeizitiert wird: der Turm zu Babel.18 Doch sie, allen voran die Sumerer19, schufen eine Zivilisation, deren Errungenschaften noch heute die Basis der unseren bilden, bespielsweise: Astronomie, Keilschrift, Mathematik oder das Rad. Dazu gehörte eine Städteplanung, eine Architektur, die ihresgleichen suchte. Man versuchte seinerzeit, mittels geometrisch angelegter Architektur eine wilde, unbezähmbare Natur zu beherrschen, sie zu begrenzen, durch Mauern, Wälle oder Zäune. Hier zeichnet sich bereits die Einengung des Natürlichen ab, das wir gerne Ausufern nennen. Aber auch verschiedene Rechen- oder Zahlensysteme verweisen auf eine spätere ‹Digitalisierung›.20

Der Beginn Baduras «digitaler Einlassung» war «eigentlich» ein kritischer, weil ihm «sofort bewußt wurde, daß das eine unglaubliche Macht darstellen wird eines Tages, und vor allen Dingen große Einschnitte im Sozialgefüge der Menschheit [...] entstehen [...], daß viele Menschen ‹freigesetzt›21 werden [...], daß viele Prozesse automatisiert werden.»

Die aus dem Ruder laufende Macht der Automatisierung deutete ‹unterhaltend› beispielsweise Charlie Chaplin 1936 in seinem Film Modern Times an, in dem ein Wanderarbeiter in die Maschinerie neuester Technik gerät. Wer weiß, was Chaplin aus der (späteren) Erkenntnis um den Computer gemacht hätte. Gezeigt hätte er möglicherweise die multiplizierte ‹Figur› Mensch.

Michael Badura hat sie (sich) geschaffen — für seinen (künstlerischen) Umgang mit der Natur und deren Wissenschaften bzw. deren Gewese darum: den Klon.22 Auch hierbei tritt wieder 1984 auf den Plan: das Streben nach dem Lebewesen, das vollständig zu unterwerfen ist. «Der Klon als Arbeiter, als Steuerzahler und als Rentenlieferant wäre eine — naive — Vorstellung, wie man jetzt hier der Menschheit helfen könnte.»

Doch um diesen übelsten Fall eines ‹Nach›-Denkens über orwellsche Schreckensbilder geht es ihm nicht tatsächlich. Auch nicht um vorstellbare künstlerisch «dienstbare Geister, ähnlich den Zauberwesen bei Goethe, die irgendwelche Dienste einem erweisen und weitgehend autonom, also frei von menschlichem Einfluß sind».23 Entscheidend war, «daß für mich immer schon interessant gewesen ist, mit den gleichen Methoden zu arbeiten wie die Wissenschaft. Das heißt, ich wollte selber für mich erst einmal herausfinden, inwiefern man mit dem Computer, also mit einem künstlichen Mittel, eine möglichst identische, menschliche Gestalt produzieren kann.»

Wir betrachten erstaunt Höhlenmalereien, sehen uns gerne antike Mosaiken an, prüfen den Goldenen Schnitt bei Raffael oder Tizian, stehen verblüfft vor Caravaggios oder Rembrandts Hell-Dunkel-Malereien, schwärmen vom Übergang des Impressionismus in den Expressionismus, diskutieren über Öl- bzw. Acrylfarben, über Farbauftrag auf grundierten oder nichtgrundierten Leinwänden sowie photographischen oder Video-Techniken in Installationen24. In der Geschichte der Kunst ist immer heftig über Neuerungen debattiert worden. Doch dem Computer steht die Branche nach wie vor höchst skeptisch gegenüber — obwohl er auch aus der Kunst kaum noch wegzudenken ist.

Badura hat lange mit herkömmlichen Mitteln gezeichnet, gemalt, sich, teilweise so manches Konzept vorwegnehmend25, mit Farbe auseinandergesetzt, etwa in den Farb-Dossiers oder seinen Wunschvorstellungen zur Bundeskunsthalle, 1978/79.

Geradezu konterkariert hat er sie als «perfekt geschlossenes System» in Büro für Orwells 1984. Er hat Objekte gestaltet, mit Draht, Teer, Zement, mit Materialien aus der Natur in der Natur, aber auch im Raum Installationen erstellt, mit Photographie gearbeitet.

All diese Sujets sind nach wie vor in seiner Arbeit sichtbar. Nur daß er sich eben nach 1984 ausschließlich der Computertechnik als künstlerischem Ausdrucksmittel bedient hat. Sie ist ihm eben das, was anderen Leinwand, Pinsel und Palette bedeuten.

«Der Computer», so Michael Badura, «wird einen Siegesmarsch antreten, nicht nur durch einzelne Nationen, sondern er wird international überall sich als das entscheidende Instrument herausstellen [...]. Und die andere Sache ist, daß für mich ein Künstler eigentlich ein Realist sein sollte [...] im Sinne eines möglichst totalen Verständnisses als Ausgangspunkt von allem. Und wenn Künstler den Computer nicht verstehen, würde ich ihnen heute auch absprechen, daß sie die Chance hätten, die Welt zu verstehen. Und wenn ein Künstler nicht mehr die Welt versteht, kann er eigentlich für mich kein Künstler mehr sein, sondern er wird dann automatisch zur Folklore. [...] Wenn zum Beispiel ein Maler ein Sonnenblumenblatt malt, muß er gar nichts von der Sonnenblume verstehen. Wenn er aber anfängt, mit dem Computer ein Sonnenblumenblatt nachzubauen, wird er auf einmal merken, er muß sich mit der Sonnenblume beschäftigen.»

Und damit mit der Welt.

Anmerkungen
1 Aus: Die Verkleinerung des Lebens. Für Konrad Zuse und den Rest der Welt. Wuppertal, 4. 4. 1984, veröffentlicht in: Andreas Seltzer/Katharina Meldner (Hrsg.), KÜNSTLERPECH/KÜNSTLERGLÜCK, 3 Galerie Friedrichstrasse, Berlin 1985, Talwerkarchiv; hier zitiert nach: Badura-Museum.
2 a. a. O.
3 Esoterik ist abgeleitet vom griechischen esotoros und bedeutet das Verborgene, Innere; ursprünglich: Geheimwissen für Eingeweihte (Orden, Logen). Es fand zunächst als Gegenbewegung zur Aufklärung Verbreitung, die sich, vor allem in der Person Voltaires, in erster Linie gegen die Politik der katholischen Kirche und den ihr anhängenden Adel richtete, dann verstärkt nach der französischen Revolution, als weite Teile der verunsicherten Bevölkerung sich einer verdrängenden, ins Innere zurückziehenden Romantik zuwandten. Doch heutzutage kommt Esoterik eher als kostenpflichtiges Nicht-Wissen daher.
4 Ebenfalls aus dem Griechischen: oikos = Haus, logos = Wissenschaft, also die Lehre von der Haus-Wirtschaft, wobei auch die Umgebung des Hauses gemeint ist.
Doch es ist Florian Felix Weyh zuzustimmen, der diese Definition für einen «archaischen Begriff von Ökonomie» hält (eMail vom 2. März 2007 an den Autor). Das verweist, passend zu Geiz-ist-geil, auf ein neuerliches deutsches (Gesellschafts-)Phänomen: Bio. Bio-Äpfel aus Chile? Hauptsache gesund. Und billig. Egal, was es (die Welt) kostet.
5 Michael Badura: Die Verkleinerung des Lebens, a. a. O.
6 Michael Badura: Ich bin auf dem Mond geboren ..., in: Die Eingeweckte Welt. Das Totale System. Eine Projektion. Verfaßt 1966, nachzulesen in Baduras virtuellem Museum.
7 Soweit nichts anders gekennzeichnet, entstammen die Zitate aus Gesprächen, die der Autor und der Künstler zwischen dem 9. und dem 11. Januar 2007 in Baduras Haus geführt haben. Dank an Michelle Westedt fürs Protokollieren.
8 Ich bin auf dem Mond geboren ..., a. a. O.
9 Die Anarchie nahm ihren Anfang eigentlich ja bereits bei Homer oder Herodet, bei denen es sich noch um ‹führerlose› Menschen handelte. Bei Aristoteles waren es die Sklaven ohne Herrschaft. Kant, Schlegel und viele andere danach wie Stirner haben jedoch den Weg aufgezeigt: Anarchie sei Herrschaftslosigkeit, allerdings ohne Gewalt. Also alles andere als das, was vermummte Rabauken darunter verstehen.
10 Die zwischen 1751 bis 1772 erschienene 28bändige Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, gemeinhin bekannt als das Werk von Denis Diderot, gilt als das grundlegende Werk der französischen Aufklärung. Es hatte entscheidende geistige Einflüsse auf die europäische, letztendlich die Geschichte der westlichen, ‹zivilisierten› Welt; wo es im Deutschen ‹Kultur› heißt, wird es im Französischen ‹Civilisation› genannt.
11 Dorthin hatte es Mutter Badura — deren Mann im Krieg geblieben war — völlig mittellos mit ihren drei Söhnen hin vertrieben.
12 Michael Fehr: Michael Badura. Konkreter Realismus, in: ders: Badura-Werkverzeichnis, Nürnberg 1992; dieser Aufsatz analysiert Baduras Arbeit als «Künstler-Forscher mit ausgesprochen experimentellen Interessen» vortrefflich. Siehe dazu auch Baduras Texte.
13 Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951), Tractatus logico-philosophicus. Philiosophische Untersuchungen. Leipzig 1990
14 Arthur Schopenhauer (1788 – 1860): Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1988 [F. A. Brockhaus 1859]
15 Originaltitel Nineteen Eighty-Four, erschienen 1949, deutsch 1950 als 1984. Der Titel entstand durch die Umkehrung der Jahreszahl 1948, dem Jahr, in dem George Orwell (eigentlich Eric Arthur Blair, 1903 – 1950) das Manuskript zu dieser düsteren, beklemmenden Vision eines totalitären Überwachungsstaates zu verfassen begonnen hatte, der nur mit den Mitteln einer extrem ausgeprägten Bürokratie funktionieren konnte. Ein erhellender Text von S. Andrew zur Entstehung von 1984 bzw. dessen Hintergründe ist hier nachzulesen.
16 Michael Badura in einer eMail vom 22. Januar 2007 an den Autor
17 a. a. O.
18 Das biblische «babylonische Sprachengewirr» als Vergeltung Gottes für den Hochmut der Turmbauer hat es jedoch nicht gegeben. Der Ortsname Babel wurde aus dem hebräischen balal (= verwirren) erklärt. Doch der Name entstammt einer unbekannten Urbevölkerung. Siehe: Ursula Muscheler: Die Nutzlosigkeit des Eiffelturms. Eine etwas andere Architekturgeschichte. München 2005
19 Die Sumerer sind das älteste nichtsemitische Volk aus dem südlichen Babylonien, gelegen zwischen Euphrat und Tigris, das in etwa dem heutigen Irak entspricht.
Die Bezeichnung Sumerer (auch Sumer oder Schumer) ist akkadischer Herkunft, sie bedeutet ‹Kulturland›. — Den Sumerern haben wir auch die älteste Vorstellung von Paradies zu verdanken: ewig grüne und fruchtbare Felder und Gärten. Allerdings dürfte es in diesem vor-biblschen Garten Eden keine Äpfel gegeben haben. Es dürften Feigen gewesen sein, die den Sündenfall ausgelöst haben.
20 Der Begriff ‹digital› ist dem Englischen entlehnt (digit = Ziffer) und leitet sich vom lateinischen digitus = Finger ab. «Um zu addieren und oder zu teilen, nahmen die Römer entweder ‹Rechenbretter› mit kleinen Steinchen oder einfach die Finger zur Hilfe. [...] Alles, was digital ist, basiert auf einem mathematischen System, das Leibniz 1679 erfand, eine mathematische Sprache, die auch Maschinen verstehen. Das binäre System, auch duales oder dyadisches genannt, besteht nur aus den Ziffern 1 und 0.» Zitiert nach: Hilmar Schmundt, in: Die Macht der Zahlen. morgenwelt. magazin für wissenschaft und kultur.
21 wie (Massen-)Entlassungen heute beschönigend genannt werden
22 griechisch: klon = Schößling; eine genetisch identische Kopie eines Organismus'. Bei Pflanzen, Bakterien und einigen niedrigen Tierarten kommen Klone in der Natur über die ‹Parthenogenese› vor, bei Menschen und Säugetieren mit sexueller Fortpflanzung entstehen sie auf natürliche Weise nur in Ausnahmefällen bei der Geburt eineiiger Mehrlinge.
23 Damit spricht Badura international bekanntes deutsches Bildungsgut an: «Herr und Meister, hör' mich rufen! –/Ach, da kommt der Meister!/Herr, die Not ist groß!/Die ich rief, die Geister,/Werd ich nun nicht los.» Johannn Wolfgang von Goethe, Der Zauberlehrling. Zitiert nach: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 1, Gedichte und Epen. München 1977. Goethe bediente sich dabei der Vorlage des griechischen Dichters Lukian (120 – 180 n. u. Z.).
24 ein Begriff, den wir vor noch gar nicht so langer Zeit im Handwerker-Branchenbuch gesucht haben
25 Laut Michael Fehr nahm er z. B. den «radikalisierten Expressionismus, die Diskussion um die gestische Malerei der ‹Neuen Wilden› vorweg». Fehr: Michael Badura. Konkreter Realismus, a. a. O.


Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 78, Heft 8, 2. Quartal, München 2007

© Für den Text: Detlef Bluemler und Zeitverlag (ehemals WB-Verlag);
für die Badura-Abbildungen: © Michael Badura

 
Sa, 12.12.2009 |  link | (2296) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Bildende Kunst






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