Grand Formats

François Morellet

Ein Bild hängt schief, nicht sehr, aber doch so, daß die sorgsam gepflegte Präsentation geometrischer, sprich konstruktivistischer Malerei aus dem musealen Rahmen gekippt ist. Bei ihrem Urheber handelt es sich jedoch nicht etwa um einen prätentiösen Jungstar am Firmament des Kunstmarktes, der partout Anti-Werte schaffen will. Es ist ein freundlicher Herr des Jahrgangs 1926 mit besten Umgangsformen und ebensolchen Kenntnissen in der Geschichte seiner Kunst.

Seit 1950, nach einer kurzen Phase der Gegenständlichkeit, malt François Morellet das, was man gemeinhin als abstrakt bezeichnet, und das fünfzehn Jahre lang parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit als Industrieller. Und er tut das, bis heute, mit einem Charme und Witz, mit einer Virtuosität, die den Gedanken an Max Frischs Komödie Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie hervorrufen.

Denn Morellet liebt die Geometrie, die Ordnung ebenso wie dieser Mann, der die Frauen (nicht) liebte. Doch anders als der ist Morellet in die Systematik vernarrt, weil sich mit ihr so trefflich spielen läßt, man ihr Viren injizieren kann, die das dem System immanente Chaos sichtbar werden lassen.

Allerdings meint Morellets Chaos nicht «zitternde Stifte, klecksende Pinsel, leckende Behälter», auch nicht « ‹diese Neigung zum Unvollkommen›, welche den wiederaufbereiteten Ökos so teuer ist». Ihm geht es nicht um die vielzitierte ‹Sensibilität›, viel mehr gefällt ihm eine Malerei der Intelligenz, mit der er das Dogma der künstlerischen Rechenschieberei unterläuft: «Ikonoklastische Geometrie und verunfallte Geometrie» hat er sein System tituliert.

Die Anhänger der Reinen Lehre des Konstruktivismus werden (einmal mehr) nach dem Tschador rufen angesichts der und für die Grand Formats. Denn diese mehrteiligen Gemälde und Installationen signalisieren, augenzwinkernd, Lust (die durchaus ins androgyne Zentrum zielen mag). Wer den Begriff Konstruktivismus unsicher alphabetisiert, wird möglicherweise nach einem Mehr dieser ‹Reinheit› trachten: einer Kunst, die gleichermaßen natürlich fragil und nonchalant artifiziell zu irritieren vermag.

«Morellet», so Ernest W. Uthemann in seinem zu dieser Arbeit kongenialen Saarbrücker Katalog-Aufsatz (neben Texten des Künstlers sowie von Meinrad M. Grewenig und Serge Lemoine), «verwendet die Geometrie grundsätzlich anders. Er führt den Betrachter nicht zu der Stelle, wo alle Mehrdeutigkeit ausgeschaltet ist [...]. Zwar sieht er sich durchaus in einer Tradition der Moderne [...]», das damit «verbundene Moment der Askese, der Wunsch, ‹letzte› Bilder zu malen, ist Morellet jedoch fremd.»

Es ist die lakonische ‹Perfidie›, die (klassisch-)feuilletonistische Marginalie dieses Grandseigneurs in der Soutane der Geometrie, der seine Gemeinde, aber durchaus auch Andersdenkende, über den «Diktator in der Unterwäsche» (Uthemann) schmunzeln läßt.

Mit feinen, diffizilen Verschiebungen von Konstanten innerhalb der Systeme, mit Nuancierungen puristisch hochgehaltener Werte, mit fein gesponnener Persiflage der Geometrie-Kompendien geht François Morellet «ikonoklastisch» vor — wobei ihm nichts ferner liegt als der eindeutige Hinweis auf eventuelle Fehlerquellen. Denn ohne jeden Zweifel hat die Heiligsprechung des Konstruktivismus mehrere davon. Auch (oder gerade) die weihevollen Museumspräsentationen haben dazu beigetragen. Deshalb wirkt Morellets Arbeit wohl besonders frisch.

Dennoch sei Vorsicht geboten denjenigen, die meinen, sich ihr Mütchen kühlen zu können. Denn: Morellet liefert die Geometrie nicht ihren Feinden aus.


Weltkunst Heft 8, 15. April 1991, Seite 1199

Abbildung: Reflets dans l’eau déformés par le spectateur, 1964

 
Mi, 28.10.2009 |  link | (793) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Bildende Kunst






To prevent spam abuse referrers and backlinks are displayed using client-side JavaScript code. Thus, you should enable the option to execute JavaScript code in your browser. Otherwise you will only see this information.











la chose ist das hierher umziehende Archiv von micmac.
Letzte Aktualisierung: 30.10.2015, 04:39



Zum Kommentieren bitte anmelden



? Aktuelle Seite
? Themen
? Impressum

? Blogger.de
? Spenden

Letzte Kommentare:

/
«Das Sprechen
(micmac)
/
Christoph Rihs:
(micmac)
/
Rihs
(micmac)
/
Frühe Köpfe
(micmac)
/
Rihs' Wort-Spiel
(micmac)
/
Für eine Sprache
(micmac)
/
Ein Bild machen
(micmac)




Oktober 2009
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 7 
 8 
 9 
10
12
13
14
16
17
18
24
25
26
27
28
 
 


Suche:

 


Alle Rechte liegen bei © micmac.







Zum Kommentieren bitte anmelden

Layout dieses Weblogs basierend auf Großbloggbaumeister 2.2