Traum-Räume. Raum-Träume

Über die Arbeit von Peter Chevalier

Walter Vitt wies eindringlich darauf hin: Es würden innerhalb der Branche sogenannte Fakten leichtfertig übernommen.1 Dies, aber auch der eine oder andere getrübte Blick dürften die Gründe sein dafür, daß die Gemälde von Peter Chevalier immer wieder bei Jungen oder Neuen Wilden auftauchen2, diesem Versuch der achtziger Jahre, die französischen Fauvisten3 neu und deutsch zu beatmen. Doch auch in Chevaliers Atelier hoch oben unter den Wolken von Kreuzberg ist nirgendwo «Gewühl und Hertie» versteckt. Dennoch auf dieses Phänomen der Fehlsortierung angesprochen, lautet im August 2007 seine fast entrüstete Gegenfrage: «Mal' ich vielleicht Gefühle?!» Und, wieder ruhiger: «Ich hab noch nie Lebensgefühl gemalt.»4

Chevalier gehörte, nachdem er 1980 vom Studienort Braunschweig, nicht zuletzt auf Rat seines Lehrers Hermann Albert, nach Berlin übergesiedelt war, eben nicht zu denen, die in «dem ganzen Zirkus»5 mitturnten. Zu dieser Zeit ergab es sich, daß «unheimlich viele Maler nach Berlin [kamen], zum Beispiel vom Lüpertz aus Karlsruhe, die haben weder weitergemalt noch sonst was gemacht. Die wurden einfach von der Stadt erdrückt».6 Mit einem ehemaligen Studenten von Markus Lüpertz hatte er auch anfänglich das erste Atelier gemeinsam. Doch «der kam einfach mit der Situation nicht zurecht. Da läufst du vom Kottbusser Tor hierher, von der U-Bahn, da bist du natürlich extrem einsam. Dann sollst du noch malen, oder wie?»7

Chevalier hat sich von der damaligen Hektik, der Geschwindigkeit auf dieser Insel inmitten des politischen Malstroms8 nicht mitreißen lassen. Die durch die Wusseligkeit, manchmal auch aufgepropfte Wildheit dieser Stadt entstandene Angriffslust, verursacht sicherlich nicht zuletzt durch die (geo-)politisch bedingte Ausnahmesituation, richtete er auf sich. «Man muß eine ganz bestimmte Aggression haben, hauptsächlich gegen sich selber [...]. Wenn du die nicht hast, brauchst du erst gar nicht den Pinsel anrühren.»9 Selbst-disziplinierung war es wohl, die ihn konzentriert hat malen lassen. Aber eben keine Gefühle. «Ich will», sagte er bereits in den turbulenteren Anfangszeiten, «keine exhibitionistischen Bilder malen.»10 Gefühlspornographie auf Leinwand ist bis heute nicht seine Welt. Seine Bilder zeigen Innen-Leben.

Das heißt nun keineswegs, mit Peter Chevalier einen in sich und sein Atelier zurückgezogenen Maler vorzufinden, der sich einer romantizistischen Attitüde hingibt. Ein Romantiker ist er gleichwohl. Doch Romantik ist nunmal anderen Ursprungs, als das landläufig schlichte Bild von ihr hergibt. Jochen Gerz hat dieses langlebige Mißverständnis korrigiert: «In der Romantik kommt es zur Panne des Auftrags, eigentlich ein schöner Moment, unglaublich scharf und ohne jede Entschuldigung. Scharfgestellt wird auf die Kunst, und was da steht, nackt und alleine, das ist eben die Kunst. Die Kunst ohne Dauer, Publikum, Auftrag. [...] Das entspricht einem fast französischen Begriff des Politisierten. [...] Das allerwichtigste: daß sie eine relativ würdige, unexpressive Haltung eingehalten haben des totalen Fehlens von Anlaß zu Hoffnung. Die Romantiker waren total getrennt von ihrer Liebe, ihrer Sehnsucht, ihrem Verlangen nach Ursprung oder Zukunft, von ihrem eigenen Bewußtsein, von ihrem Programm, und ohne zu klagen und zu lamentieren und ohne sich zu verbohémisieren haben sie das ausgehalten.»11

Die Romantik ist gekennzeichnet von der Sehnsucht. Weit hinten liegt das Innen. Es zeigt sich in einer sich immer weiter hinausschiebenden Ferne. Nur wer ihr nachzugehen bereit ist, wird den Brennpunkt erkennen. Zunächst jedoch ist er verriegelt mittels der ihm eigenen Symbolik. Nur wer die Metapher geknackt hat, vermag sie auszuleuchten.

Chevaliers Malerei wird, wohl wegen Symbol und Metapher, immer wieder als französisch bezeichnet, beispielsweise bei Isabel Greschat und Peter Winter.12 Auch Chevalier selbst streift das Land immer wieder mal, allerdings meist dann, wenn es um Literatur geht. Georges Simenon erwähnt er, den er in der Schulzeit gelesen hat. Maurice Merleau-Ponty, den großen Philosophen und Phänomenologen, des Forschers der Wahrnehmung, zitiert er.13 Auf Julien Green, den letzten Amerikaner in Paris, der dort auch geboren wurde, der dort gelebt und in französischer Sprache geschrieben und wohl auch geträumt hat, kommt er zurück. Auch Francis Ponge fällt ein ins Gespräch, der 1988 gestorbene Schriftsteller, der geschrieben hat, wie andere malen.

Interessanterweise hat Chevalier mit Frankreich ansonsten nicht sonderlich viel im Sinn. Sicher, einen Studienaufanthalt Ende der achtziger Jahre in der Vendée gab es, an den er sich gerne erinnert, in Les Sables d'Olonne, einem atlantiknahen Städtchen unweit der Protestantenhochburg La Rochelle. Im Museum, einem ehemaligen romanischen Kloster, hatte er dann auch eine Ausstellung seiner Gemälde und Zeichnungen.14

Doch da ist der französische Name. Ein hugenottischer ist's. Hugenotten flüchteten (zuletzt) Ende des 17. Jahrhunderts zuhauf auch nach Deutschland, korrekt: in deutsche Länder; damals gab es das Deutschland noch nicht, das heute bekannt ist.15 So kam ein Teil von ihnen ins Badische. Und von dort stammt Peter Chevalier.

Hugenotten waren Protestanten, genauer: Calvinisten, recht rabiate Vertreter einer Offenbarungslehre, die jedweden Kult(us) ablehnten, deren Hölle die des völligen Verzichtes auf alles ist und deshalb für viele noch ärger brennt als die katholische, zumal die die Beichte kennt und den Ablaß. Ob der ins Hugenottische verbannte Peter Chevalier sich deshalb nach der katholischen Wurzel sehnt? Ist er auf dem Weg zum sehr späten Konvertiten in die Vergangenheit?

Nun sind seine Gemälde nicht eben ausgeprägt katholisch, schon gar nicht erfüllt von hymnischem Laudate. Als ob er seiner Verehrung nicht traute, versteckt er den Kultus in einem üppigen Protestantismus. Doch auch hier schimmert eine Sehnsucht durch: «Es ist faszinierend, daß es in der Kirche so viele Bilder gibt und gab — wie die katholische Kirche mit den Künstlern umgegangen ist. Das ist das Gegenteil vom Protestantismus.»

Nun darf man anderer Meinung sein über den früheren, aber durchaus auch aktuellen Umgang der katholischen Kirche mit Kunst und Künstlern. Richtig ist wohl, die Malerei gäbe es ohne Päpste beziehungsweise Kardinäle respektive Fürsten und Grafen nicht, die ebenso der Kirche ergeben waren, die ja für den unabdingbaren Glauben stand. Es gab nichts Höheres als die Kirche. Nur Gott stand darüber. Und wer, wie die Hugenotten etwa, anders geartet glaubte oder, später, der Vernunft ergeben war, befand sich im Bund mit dem Teufel und wurde auch schon mal gevierteilt oder sonstwie massakriert. Durch die Kirche, die katholische. Kirche bedeutete Allmacht. Und Kunst bedeutet(e), vereinfacht formuliert: Huldigung Gottes. So sieht das auch ein regierender Kirchenoberer des 21. Jahrhunderts.16 Das war der Kult, den die Protestanten abgeschafft wissen woll(t)en und den viele Katholiken heute vermissen. Deshalb wohl wird mancherorts die Messe wieder lateinisch gelesen.

Ist es das Mystische in diesem Umfeld, das Peter Chevalier anzieht? Das Mysterium Malerei?

Francis Ponge. Er hat zwar nicht gemalt. Aber er hat sich in seiner Dichtung, in seinen Essais den ‹Dingen›17 suchend, (be-)schreibend genähert. «Die Texte wollen den Gegenständen ähnliche Objekte aus Sprache sein [...] als eine Art Definition und Deskription alltäglicher Dinge [...].»18 Ähnlich, so ließe es sich betrachten, geht Peter Chevalier in seiner Malerei vor. Wenn seine Gegenstände auch andere sind als die des Alltags, der sogenannten Wirklichkeit.

Ponge schreibt von sich ein Bild, das eine Nähe zu Chevalier darstellen könnte: «[...] Die am besten begründeten Ansichten, die harmonischsten (bestgebauten) philosophischen Systeme sind mir immer völlig brüchig vorgekommen, haben bei mir einen gewissen Widerwillen, der unbestimmt an die Seele griff, ein peinliches Gefühl der Unbeständigkeit hervorgerufen. [...] So erscheinen mir die Ideen an und für sich als das, wozu ich am wenigsten befähigt bin, und sie interessieren mich kaum.»19 Die Dinge an sich interessierten ihn, die Welt in den Dingen, zum Beispiel in der Auster:

«Drinnen findet man eine ganze Welt, zu essen und zu trinken: unter einem Firmament (im eigentlichen Wortsinn) aus Perlmutt senken sich die Oberhimmel auf die Unterhimmel und bilden mit ihnen eine einzige Lache, einen grünlichen, klebrig-zähen Beutel, der für Geruchssinn und Auge schwillt und sinkt, am Ufersaum mit schwärzlichen Spitzen besetzt.»20

So tastet sich auch der Maler langsam an die Innenwelt der Dinge heran. Die Form an sich spielt eine Nebenrolle. Denn die ergibt sich ohnehin beziehungsweise ändert sich fortwährend während der Suche nach dem Wesen der Dinge. Von Ponge wird bisweilen behauptet, er schreibe nicht auf die Metapher hin. Auch das kann man anders sehen. Denn sie entsteht in seiner Gegenstands-Beschreibung letztendlich doch. Chevalier malt den Gegenstand des Un-Eigentlichen. Auf der Suche danach führt es ihn zu Wesentlichem, das sich in einer symbolartigen Figur ausdrückt, die einen eigen-artigen Raum benötigt. Die Schnecken von Francis Ponge drängen sich auf: «Als Heilige machen sie ihr Leben zum Kunstwerk — ihre Vervollkommnung zum Kunstwerk. Sogar ihre Sekretion geschieht derart, daß sie zur Form gerät.»21 Peter Chevalier muß sich auf diesen Mal-Spuren befinden.

Théophile Gautier. Ihm wird das mindestens so oft wie der Begriff Romantik mißbrauchte, zumindest aber mißverstandene L'art pour l'art22 zugeschrieben, einer Kunst, die sich selbst genügt und frei von Markt, Moral und gesellschaftlicher Verantwortung ist. Am deutlichsten hat sich die Kunst um der Kunst willen in der Dichtung von Charles Baudelaire gezeigt, dieser romantische Schöpfer der Antipoden der romantischen Blauen Blume, der Bösen Blumen, diesen ungeheuerlichen, die Ästhetik des sogenannt Häßlichen besingenden, selbst in deutscher Übersetzung noch sprachgewaltigen Gedichten Les Fleurs du Mal.23 Es verneint alles, was dem Verständnis, der Erkenntnis zuträglich sein könnte. Baudelaire verwendet keinerlei genaue Beschreibung, er ergeht sich in (alp-)traumartigen Verfremdungen. «Die Empfindungen», so Gert Pinkernell, «die durch diese Symbole ausgelöst werden, sollen dem Wesen der Idee entsprechen und neue Ebenen hinter der scheinbaren Realität aufdecken. Den Symbolisten [...] gelang es mit Hilfe ihrer fließenden Sprache Effekte zu erzeugen, die an musikalische, architektonische oder malerische Kompositionen erinnern. Durch die Verwendung von melodischen Rhythmen und mehrdeutiger Symbolik brachten sie facettenreiche Assoziationen und nuancierte Empfindungen zum Ausdruck.»24

In der «Nachfolge der französischen Symbolisten und vor allem Surrealisten» sieht Isabel Greschat Peter Chevalier.25 Dabei fällt der Name Odilon Redon. Der hegte, «losgelöst von jedweder akademischen Tradition und avantgardistischen Trends seiner Zeit»26 eine Vorliebe für das Traumhafte und Mystische. Dabei nahm er in erster Linie die alten Meister als Vorbilder für sein ‹Musée Imaginiaire›. Redon «rezipierte» überwiegend die Kunst der Renaissance, nach Originalen im Louvre und nach Photographien, was zu seiner Zeit üblich war: «Sehr viele Künstler aus Redons Generation kopierten im Louvre, z. B. Cézanne, Degas, Fantin-Latour, Manet, Berthe Morisot, Pissarro, Renoir, Moreau, Rodin etc.»27 Nach Italien fuhr Redon spät und auch nur zwei Male.

Peter Chevalier hingegen tat dies bereits in jungen Jahren.28 Auch ihn faszinieren die Alten Meister. «Das Interesse an fremdartigen, mehrdeutigen Bildern, die mit verborgenen Schichten der Seele korrespondieren und eine Fülle von Assoziationen auslösen, läßt ihn an die Innovationen dieser früheren Künstler anknüpfen und zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk.» Dabei verweist Isabel Greschat auf den surrealistischen Grundsatz, der Künstler erfinde eigentlich nichts Neues.29 Wie auch? Alles sei schon einmal gedacht (gemalt?), wird Kurt Tucholsky später lapidar feststellen.30

Symbolismus. Surrealismus. Auch die italienische pittura metafisica wird gerne mit Peter Chevalier in Verbindung gebracht. Peter Winter begibt sich sogar in die neuere Kunstgeschichte: «Bei einigen seiner Ölbilder spürt man, daß sich Peter Chevalier auch mit Arshile Gorky, Rufino Tomayo und Wifredo Lam beschäftigt hat, daß eventuell die Imaginationen Graham Sutherlands und der frühe Wols ebenfalls nicht spurlos an ihm vorübergegangen sind.»31 Genausogut ließe sich allerdings fragen, in welchem Museum oder sonstiger Umgebung die Bildinspirationen der Genannten nicht zu finden wären; die zeitgenössische Indiziensucherei nimmt bisweilen Züge an, die grotesker anmuten als manch ein Bildsujet. Auch der bildende Künstler nährt sich nunmal aus dem Napf der Erfahrungen, die andere vor ihm gemacht haben. Wie der Koch, der ins Sternenreich zu gelangen trachtet, kreiert er sie neu. Doch ohne das bewährt Irdische wird dem niemand ein besterntes Mützchen aufsetzen. Es ist alles eine Frage des Neu-Sehens. Zudem, so würdigt Johann-Karl Schmidt die Arbeit von Peter Chevalier: «Nirgends kann sich die Erkenntnis des Neugeschaffenen noch auf die Krücke des über die Sinne geführten Wiedererkennens stützen.»32

Wilhelm Bojescul fährt einen auffällig didaktischen Weg — um diese Malerei zu umschiffen: Ohne Peter Chevalier in eine «unerwünschte Nähe zur Abstraktion bringen zu wollen, ist festzustellen, daß in den Bildern scheinbar unterschiedliche Stilmittel existieren, daß Realistisches und Abstraktes konfrontiert werden [...]. Des öfteren fällt ein Schlagwort wie ‹metaphysische Malerei›, als wäre das Metaphysische der einzige Anlaß zur Malerei. [...] Meiner Meinung nach geht es Peter Chevalier primär um ein Interesse, sich als Maler im weitesten Sinne des Begriffes zu artikulieren, ohne an dieser oder jener Richtung anknüpfen zu wollen, geschweige denn zu müssen.»33

Statt (Er-)Klärung eine Nebelkerze. Denn das Gemälde an sich stellt bereits eine Abstraktion dar. Eine «unerwünschte Nähe» führt in die Irre, da Chevalier nunmal nichts anderes tut als das Wesentliche vom Unwesentlichen (und umgekehrt) zu trennen. Bojescul möchte für Chevalier die beiden geläufigen Begriffe Realismus und Abstraktion getrennt wissen. Letztere wird gerne rein geometrischen Wurzeln zugeordnet, erstere der Figur. Dabei gibt es doch ebenso eine (geometrisch anmutende) Farbfeldmalerei, die sich aus dem Figurativen entwickelt hat. Und auch wenn bei Chevalier die Figur im Vordergrund steht, so sehnt die sich nie nach Realität, sondern tritt immer die Flucht in den (Traum-)Raum an.

«Die Realität des Bildes ist», wie Bojescul an- bzw. bemerkt, «eine eigene Realität fern unserer Alltagsweit. Dem Betrachter wird die Relativität des Relativen vorgeführt. Es entsteht eine bildeigene Dialektik, die nur im Rahmen des Bildes logisch ist, die Großes klein werden läßt bzw. läßt sie auch Kleines groß erscheinen, wie zum Beispiel die menschliche Gestalt. Weitere Polaritätspaare, die in den Bildern vorhanden sind, sind nah und fern, hell und dunkel und schnell und langsam. Diese Polaritätspaare bewirken einen augenblicklichen monumentalen Zeitstillstand für den Betrachter, ohne daß die Bilder außerhalb der Zeit stünden. Die Zuordnung der Gegenstände orientiert sich grundsätzlich an der Bildfläche, die bewältigt werden muß. Somit wird deutlich, daß die Realität für den Maler zunächst einmal die Leinwand ist, auf die er seine Weltsicht bringt.»34

Weltsicht? «Egoversum» hat Christoph Rihs (seine) Kunst einmal (selbstironisch) genannt.35 Dem Maler, der nichts anderes sein will als das, wird sie zwangsläufig immer kleiner, diese Welt. Um jeden Quadratmillimeter kämpft er, um jede Darstellungsform des Geringsten noch, mit jedem Pinselstrich, um jede pastose Erhebung, um jede Farbnuancierung, um zu verdeutlichen, was das Geistige in ihm und damit in der Kunst ausmacht. Oft hat er, manchmal bereits über die Étude, in seinem Fall (als eigenständige Form) die Zeichnung, alles in Einklang, in einen Klang zu bringen versucht. Auch der Hilfe der Ölfarbe bedient er sich — denn sie ist ebenso Ausdrucksmittel, die sich in jedem Licht und über lange Zeit hin immer wieder verändert. Und damit das Egoversum, das ohnehin dazu neigt, sich ständig neu zu orientieren. Ex oriente lux — im Osten geht die Sonne auf ...

Räume, so nennt Peter Chevalier seine Bilder. Johann-Karl Schmidt nennt als Gundvoraussetzung für solches (weniger dem Dekorativen gewidmete) Raum-Schaffen das «Sehvermögen der Seele». Was die Seele sieht, ist, wie Schmidt meint, nicht Wirklichkeit, also spiegele sich darin auch keine solche. Auch dabei läßt sich ein anderer Standpunkt einnehmen. Zumindest haben seit Sigmund Freud hier einige Wirklichkeiten gesehen, die sich in der Seele wiederfinden. Gerade in den Träumen, so hat die traumdeutende Wissenschaft über die Jahrzehnte hin herausgefunden, wirft die Seele Wirklichkeiten aus, verarbeitet Geschehenes, aber durchaus auch Ahnungsvolles, Visionäres, Utopisches. Kunst kommt von Sehen, von dessen Umsetzen. Peter Chevaliers Seele, so sei spekuliert, sucht den Nicht-Ort. Hierbei gerät er ins Fahrwasser eines Sur-Realismus, der (auch) Symbole gebiert, auf der Suche nach Wahrheit Ergebnis einer Neben-Wirklichkeit. Darum ringt, kämpft er. Was sollte er als Maler auch anderes tun?

Und es geht wohl auch weniger darum, «Neues» zu «erfinden statt Gegebenes» zu «interpretieren». Wenn er Neues erfinden will als Künstler, der sein Päckchen auf den Markt tragen muß, dann mag es heißen: «[...] sich mit größerem Mut dem Wagnis des Scheiterns oder Gelingens auszusetzen, weil nichts dem Urteil mehr festen Halt irgendwo im Vertrauten anbietet».36 Wenn den Künstler aber Neues (über-)denkt, es ihn immer wieder das Alte neu träumt, das umzusetzen ihn immer wieder aufs neue zwingt, erneut anzusetzen, dann scheitert er allenfalls am Lager derer, die unter Kunst etwas so zwanghaft Neues verstehen, wie es vom Media-Markt erwartet wird. Aber letztlich kommt auch Johann-Karl Schmidt auf den entscheidenden Punkt: Wenn Peter Chevalier also «seine Bilder Räume nennt, so soll das nicht die von vornherein nutzlose Suche nach einer vielleicht vermittels perspektivischer Linien oder illusionistischer Kunstgriffe darin enthaltenen dritten Dimension auslösen. Raumfragen oder Raumillusionen, die Künstler und ihre Interpreten bis heute gern deklamieren, als ob sie Kernprobleme der Kunst wären, kommen hier nicht zur Sprache, weil Peter Chevaliers Bild einen Kunstraum und nicht einen Weltraum eröffnet.

In diesem Kunstraum aber verharren die Dinge nicht empirisch erfahrbar und nach ihrer physischen Natur, ihrem körperlichen Volumen, ihrem schwerkraftbedingten Gewicht statisch in die drei Dimensionen geordnet, sondern sie schweben ortlos und schwerefrei in flüchtigen Zuständen. Perspektive, Ordnung und Einheit: meist waren in der Neuzeit Vernunft oder Erfahrung Richtschnur künstlerischer Spekulation selbst dann noch, wenn deren Ziele, wie beim Surrealismus, im lrrationalen lagen. Bei Peter Chevaller stehen die Bilder selbst einer Rezeption über die Vernunft im Wege, denn sie sagen dem ordnungstiftenden Einheitspostulat, das seit den Bildungsgesetzen der Renaissance unsere Sehgewohnheiten prägt, ab. Dessen Preisgabe fordert jedoch viel vom Betrachter, nämlich erneut als ein Bild anzuerkennen, was doch den harmonischen Bildbegriff, wie er überkommen ist, bestreitet.»37

Es ist dieses (nur scheinbare) Paradoxon, das der Kunst innewohnt: sie erweitert das Blickfeld des Betrachters, schiebt den Horizont in weite, bisweilen sehr fremde Fernen. Als ob man sich aufmacht, das Zuhause des engen Gebirgstals oder der Stadtschlucht zum ersten Mal zu verlassen, um dorthin zu gehen, wo die Ankunft des Besuchers schon am Vortag wahrgenommen wird. Oder einfach ein paar Schritte hinaufgeht auf den Deich und mit einem Mal sieht, daß das Denken nie ein Ende haben wird, weil die Welt rund ist wie der Kopf. Was beileibe nicht heißen soll, daß der Gedanke deshalb ständig die Richtung ändern muß. Er geht lediglich seinen Weg. Auch der hat bekanntlich ein Ziel: hin zur Kunst, immer auf der Suche zu sich selbst: L'art pour l'art im ursprünglichen, eben romantischen Sinn — zweckfrei.

Auch in der Person, genauer: in der Malerei von Peter Chevalier zeichnet dieser Weg sich ab. Bestimmte früher noch «dieses», wie Peter Winter schreibt, «nordisch Schwere» die Sujets, zeigten bereits in den neunziger Jahren neue Arbeiten im «Gegensatz zu den Bildern der achtziger Jahre einen starken Mut zur Strahlkraft der Farbe».38 Mittlerweile sind nicht nur die Bildhintergründe heller geworden, auch die Formen geben mittlerweile ein wenig von ihren Geheimnissen preis. Beharrt die Metapher auch auf ihren angestammten Ort, so bietet sie sich doch zusehends als Schlüsselsymbol an für den bereitwilligen Betrachter. Die Hermetik ist keine absolute mehr. Die Erdenschwere löst sich langsam auf, die Gemälde sind leichter, zumindest lichter geworden. Die Vermutung steht an, Peter Chevalier verlasse die hugenottischen, calvinistisch-materialistischen Fluchten und sei fröhlicher, gelassener unterwegs — in der Ahnen Spuren. Vielleicht auf dem Weg an einen (katholischen) Atlantik?

Anmerkungen
1 Walter Vitt: Palermo starb auf Kurumba. Wider die Schlampigkeiten in Kunstpublikationen. aica ‹Schriften zur Kunstkritik›, Köln/Nördlingen 2003
2 Ein Beispiel nur: Kunstmarkt.com (11.12.2007)
3 Die Fauves hatten ihren Ursprung im zwischen 1910 und 1920 aufkommenden Expressionismus, zu deutsch ‹Wilde›; der damalige Direktor der Aachener Neuen Galerie, Wolfgang Becker, gab ihren Nachkommen den Namen Junge Wilde.
4 Aus diesem Gespräch und weiteren Gesprächen entstammen auch die Zitate, die hier nicht gesondert ausgewiesen sind.
5 Gespräch mit Walter Grasskamp, gedruckt in: Ursprung und Vision. Neue deutsche Malerei. Ausstellungskatalog Centre Cultural de la Caixa de Pensiones, Barcelona; Palacio Velasquez Madrid; Museo de Arte Moderna, Mexico City, 1984
6 Gespräch mit Walter Grasskamp, a. a. O.
7 Gespräch mit Walter Grasskamp, a. a. O.
8 der allerdings weniger mit Kunst als mit Naturgewalten zu tun hat: «norwegisch Moskenstraumen, starker Gezeitenstrom zwischen den südlichsten Lofotinseln (Nordnorwegen), kann bei Weststürmen und einem nach Westen setzenden Ebbstrom kleinere Schiffe gefährden» (lexikon.meyers.de) In den Künsten wird der Begriff jedoch gerne metaphorisch genutzt.
9 Gespräch mit Walter Grasskamp, a. a. O.
10 Gespräch mit Walter Grasskamp, a. a. O.
11 Detlef Bluemler: Gespräch mit Jochen Gerz am 4. Mai 1988 in Paris
12 Isabel Greschat: Geheimnisse des Paradieses und der Phantasie, in: Peter Chevalier, Bilder und Zeichnungen 1988 — 1997, Ausstellungskatalag Galerie der Stadt Stuttgart 1997, S. 15-21; Peter Winter: Versponnen im Craquelé der Assoziationen. Der Berliner Maler Peter Chevalier. Manuskript von 1996; keine Angaben, vermutlich für Die Zeit oder Frankfurter Allgemeine Zeitung
13 «Aber das Fragen der Malerei zielt in jedem Fall auf dieses verborgene und fieberhafte Entstehen der Gegenstände in unserem Körper», in: vor himmlischen erscheinungen schützt kein brett. Mit einem Text von Gerd Denger. Ausstellungskatalog Galerie Wolfgang Gmyrek, Düsseldorf 1993
14 Peter Chevalier. Peintures Dessins 1989 – 1990. Musée des Sables d'Olonne, Cahiers de l'Abbayes Sainte-Croix, Februar bis April 1990; Katalog
15 Mit der Zeile «Von der Maß bis an die Memel» in seinem Lied der Deutschen von 1841 wollte Hoffmann von Fallersleben das Ende der großen Kleinstaaterei, «Einigkeit und Recht und Freiheit» für alle Deutschen und damit eine deutsche (demokratische) Nation herbeigesungen haben.
16 Erst im September 2007 wertete Erzbischof Joachim Kardinal Meisner Gerhard Richters neues Kölner Dom-Fenster als zu «abstrakt» und predigte im Zusammenhang mit dem neuen Kolumba-Museum in Köln: Dort, «wo die Kultur von der Gottesverehrung abgekoppelt wird», entarte sie.
17 Das französische Wort chose umfaßt allerdings weitaus umfangreichere Darstellungsmöglichkeiten, sowohl umgangssprachlich als auch in der Poesie.
18 Siehe auch: Sabine Mainberger: Schreibtischporträts. Zu Texten von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge, in: B. Siegert/J. Vogl (Hrsg.): Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich/Berlin 2003, 175-192
19 Francis Ponge: My creative method. Sidi-Madani, Donnerstag, den 18. November 1947, in: Einführung in den Kieselstein und andere Texte. Französisch und deutsch. Mit einem Aufsatz von Jean-Paul Sartre. Übertragen von Gerd Henniger und Katharina Spann. Frankfurt am Main 1986, S. 189
20 Francis Ponge: Die Auster (l'huitre), in: Einführung in den Kieselstein und andere Texte, a. a. O., S. 51
21 Francis Ponge: Schnecken (Escargots), a. a. O., S. 61f.
22 Es kann aber auch Victor Cousin gewesen sein, der den Begriff gepägt hat.
23 Wenn sie nicht, wie häufig geschehen, etwa mittels romantizistisch-romantisierender Schönheit wie bei Carlo Schmitt oder anderen, insofern totübersetzt wurden, als die bösen, kranken Blumen allzu blumig dahinwelkten. Alle möglichen Übersetzer haben sich daran versucht, die meisten sind gescheitert. In der schönen Suhrkamp-Insel-Ausgabe von 1973 hat Sigmar Löffler die Übertragung vorgenommen, und die hat den Vorteil, zweisprachig zu sein.
24 Paul Verlaine, Stéphane Mallarmé, Paul Bourget, Artur Rimbau, Gustave Kahn, Henri de Régnier, Jules Laforgue, Francis Jammes und Jean Moréas. Gert Pinkernell: Dichtung des 19. Jahrhunderts, Symbolismus, in: Frankreich-Experte.de (30.08.2007)
25 Isabel Greschat: a. a. O.
26 Isa Bickmann: Odilon Redon und die Kunst der italienischen Renaisance. Magisterarbeit, Philipps-Universität Marburg 1993, S. 60
27 Bickmann, a. a. O., S. 4 + 58
28 Peter Winter meint dazu: Wegen «[...] seines einstigen Lehrers Hermann Albert, der beinahe seine gesamte Malklasse mit dem Bazillus der Italienleidenschaft angesteckt hatte». Versponnen im Craquelé der Assoziationen, a. a. O.
29 Isabel Greschat: Geheimnisse des Paradieses und der Phantasie, a. a. O., S. 15
30 Kurt Tucholsky: Es gibt keinen Neuschnee, in: Gesammelte Werke 1925 – 1926, Reinbek 1993 (181. Aufl.), Bd. 9, S 74f. Aber war das (auch) nichts Neues, das Tucholsky da hervorgebracht hat?
31 Peter Winter, Versponnen im Craquelé der Assoziationen, a. a. O.
32 Johann-Karl Schmidt: Peter Chevalier — Über das Sehvermögen der Seele, in: Peter Chevalier, Bilder und Zeichnungen 1988 – 1997, Ausstellungskatalag Galerie der Stadt Stuttgart 1997, S. 11-14, hier: S. 11
33 Wilhelm Bojescul: Vom Eigenleben der Bilder, in: Peter Chevalier. Bilder und Zeichnungen. Ausstellungs-Katalog Kunstverein Braunschweig. 7. 11.1986 – 4. 01.1987, S. 7
34 Bojescul, a. a. O., S. 8
35 Poetische Vernunft. Detlef Bluemler über Christoph Rihs, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 60, 2002, Heft 31, S. 10; La raison poétique (en français)
36 Johann-Karl Schmidt, a. a. O.
37 Johann-Karl Schmidt, a. a. O.
38 Peter Winter, a. a. O.



Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 80. 4. Quartal (Dezember), Heft 25, München 2007

© Für den Text: Detlef Bluemler und Zeitverlag;
für die Chevalier-Abbildungen: © Peter Chevalier, © VG Bild-Kunst, Bonn; Portrait-Photographie: © Detlef Bluemler

 
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