Punk-Mode Ein malender Geschichtenerzähler Jeder irgend geartete Realismus ist etwas anderes als Realität. Schon Brecht verwies darauf, «daß weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist ins Funktionale gerutscht.» Aus dieser Erkenntnis zog der große Augsburger dann diesen Schluß: «Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich etwas aufzubauen, etwas Künstliches, Gestelltes.» Harald-O. Schulz schafft mit seinen Bildern etwas Künstliches, er stellt etwas nach. Mit Hilfe seines Mediums Kunst hebt er die Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit auf. Ist das denn Wirklichkeit: all diese flirrenden Farben auf nachtschwarzem Grund, all diese seltsam anmutenden Formationen und Physiognomien? Oder ist das Illusion, sind das die Visionen eines schlecht sehenden Malers? Anders gefragt: Wer gibt sich denn noch dieser Wirklichkeit hin, die ihm täglich ins Auge springt? Wer läßt diese Filme nächtlich illuminierter Großstadtstraßen in seinem Hirnkino nochmals ablaufen, um diese gewaltige, manchmal gewalttätige Sinnesreizung auf ihre Wirkung an sich selbst hin zu überprüfen? Wer also nimmt dieses Bild von diesem Punker-Pulk an der Straßenecke noch in sich auf, um es auf die Wirklichkeit hin abzuklopfen? Punk ist längst zur Mode heruntergekommen. Jedes Billigkaufhaus verhilft dem tagsüber im flotten Zweireiher Agierenden zu einem äußeren Habitus, mit dessen Hilfe er zum (Feierabend-)Punker avancieren darf. Er illusioniert sich selbst, indem er die Wirklichkeit ignoriert. Denn Punk ist Wirklichkeit: eine Weltanschauung, eine Philosophie (nicht das, was die Werbeleute für sich in Anspruch nehmen). Punk ist ein (schon längst nicht mehr nur großstädtisches) Phänomen, eine Wirklichkeit, die nicht mehr wahrgenommen, genauer: nur noch konstatiert, jedoch nicht mehr reflektiert wird. Diese Reflexion übernimmt der Künstler mit seinem gemalten Realismus. Er tritt an, die uns angeborene, jedoch verschüttete Intelligenz des reflexiven Sehens wieder zu beleben. Nun wäre es völlig verfehlt, in Harald-O. Schulz einen malenden Prediger zu sehen, der mit seinen Bildern gegen ein gesellschaftliches Randgruppenproblem angehen will. Und genau so sehr liegt der daneben, der meint, hier glorifiziere ein Maler den Widerstand einer der tradierten bürgerlichen Werte überdrüssigen Gemeinschaft. Icke, wie Harald-O. Schulz seine Arbeiten signiert, erzählt einfach nur Geschichten — knappe einfache Geschichten: Eindrücke, die in uns Erinnerungen wachrufen. Harald-O. Schulz wollte schon immer Geschichtenerzähler werden, schon seit seiner Schulzeit. Damals hat er noch aufgeschrieben, was durch seine Gehirnwindungen floß. Meist waren es metaphysische Themen; Über-Irdisches eben. Heute, im fünften Jahr seines Entschlusses, Geschichten nur noch malend erzählen zu wollen, hat die Darstellung des Irdischen Priorität erlangt. Das Staunen aber, das den dreizehnjährigen Icke beim Anblick des Gemäldes Der Behälter des Weltalls des Wiener Phantastischen Surrealisten Ernst Fuchs überkam, sieht man seinen Arbeiten heute noch an. Da ist, zunächst einmal, jene Wirklichkeit, die er in Form der Photographie auf die Leinwand projiziert; es ist die, nach Brecht, ins Funktionale gerutschte Realität, die eine menschliche Beziehung nicht mehr herausgibt. Dann aber stellt er künstlerisch etwas Künstliches her, indem er sein Staunen darüber, wie unwirklich sich die Wirklichkeit so manches Mal geriert, mit Hilfe von Pinsel und (Acryl-)Farbe hinzufügt. Und so entsteht (der) Realismus (des Harald-O. Schulz): Dem Betrachter zeigt sich nicht, was ist, sondern wie es sein könnte, wie es gesehen wird. Bluemler/Hübner: Punk. Angerer. Cube. Schulz. Deutsche und englische Ausgabe, Edition Lipp, München o. J. (1985), o. S.; ins Englische übertragen von Siegfried Wyler Abbildung: (© Harald-O. Schulz): Two beauties, 1985
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