Der Körper als Organ der Sprache

Über (Wolfgang) FLATZ

1974 setzte sich Flatz während einer Modenschau im Grazer Hotel Steirer Hof mit verbundenen Augen in die erste Reihe. Sowie das Publikum applaudierte, klatschte der ‹begeisterte‹ Besucher Flatz mit. Am Ende der Schau, die zu der seinen werden sollte, verließ er, weiterhin mit verbundenen Augen, den Saal, quasi hilflos, hilfesuchend und wortlos. Diesem ersten Ergebnis der Flatzschen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst, vor allem mit dem Happening und den Wiener Aktionisten, folgten 1975 weitere Durchkreuzungen herkömmlichen ‹Wahrnehmens› und ‹Fühlens›. Eine davon brachte ihm einen Aufenthalt im örtlichen Stadtgefängnis und eine anschließende Einweisung in die psychatrische Abteilung der ‹Landesirrenanstalt Valduna› ein: als er sich im Palais Liechtenstein im österreichischen Feldkirch während einer Ausstellungseröffnung von den anderen Vernissagebesuchern lediglich dadurch unterschied, daß er einen schwarzen Sack über den Kopf gestülpt trug.

Die Wiederholung eines solchen Klinikaufenthaltes brachte jene Aktion mit sich, bei der Flatz sich zwölf Stunden lang auf einer Straßenbrücke neben ein 140 mal 140 Zentimeter großes Schild gestellt hatte, dem zu entnehmen war, daß er an diesem Ort einen Unfall mit beträchtlichen Folgen verursacht habe. Während die Performances oder Aktionen der darauf folgenden Jahre allesamt ‹autoaggressiv› waren (bei denen allerdings der eine oder andere Beobachter oder Betrachter so manches Mal handgreiflich wurde), bezieht der 1952 im österreichischen Dornbirn geborene Flatz 1992 auf der Kasseler documenta IX zum ersten Mal sein Publikum konkret auch physisch in sein Konzept ein.


Bodycheck/Physical Sculpture No. 5 ist der Titel dieser Arbeit, die, in vermutlich jeder Hinsicht, Bewegung erbringen wird: Im zweiten Obergeschoß des Fridericianums hängend, den gesamten Raum ausfüllend, eine Vielzahl zylindrischer Körper, ‹Sandsäcken› ähnlich, wie sie die Boxer zum Training benutzen, 120 Zentimeter hoch, bei einem Durchmesser von 40 Zentimetern und einem Gewicht von 60 Kilogramm, was Flatz' Körpergewicht entspricht. Das Entscheidende dabei ist, daß jeder Besucher der dahinter liegenden Ausstellungsräume durch diesen ‹Skulpturenwald› hindurch muß, ihm dabei jedoch lediglich ein Zwischenraum von 40 Zentimetern bleibt, fünf Zentimeter weniger, als die durchschnittliche Schulterbreite des Menschen ausmacht.

Flatz' Intention ist die, daß jeder Besucher die Skulptur berühren, stoßen, wegschieben muß. «Sie erlaubt ihm die Fortbewegung nur als bewußte Handlung», so Flatz in seinem Konzept-Papier, «als direkte körperliche und geistige Auseinandersetzung mit der Skulptur selbst.»1 Diese documenta-Arbeit stellt Zusammenfassung und Höhepunkt der künstlerischen Vorstellungen dieses schmächtig-drahtigen, narzißtischen Philanthropen dar. «Bodycheck/Physical Sculpture No. 5 ist ... weich und brutal, schwarz und ledern, geometrisch abstrakt, massiv und beweglich, schwer und unverrückbar, streng und durchschaubar, direkt und beängstigend, das Einzelne und die Masse, Organisation und Irritation, Strategie und Widerstand, Körper und Intellekt, Raum und Form, Gewalt und Aggression ....» Und alles zusammen ist ihm «vor allen Dingen Kunst».2

Die Performances, die Flatz (wie auch seine späteren Demontagen) Stücke nennt, waren über den Zeitraum von nunmehr 18 Jahren ‹autoaggressiv› bestimmt, also auf den eigenen Körper bezogen. Doch diese Form der Ich-Bezogenheit rief immer wieder mehr Menschen auf den Plan, als das gemeinhin bei einer Gewalt der Fall ist, die gegen andere gerichtet ist. So etwa bei der Aktion Teppich: Flatz ließ sich in den Windfang der Münchner Kunstakademie legen, eingenäht in einen Teppich, auf den die Hineingehenden traten, mehr oder minder gezwungen. Die Schmerzen, die die Tritte verursachten, artikulierte Flatz jeweils mit einem schrillen Pfiff. Zwölf Stunden sollte auch dieses Stück andauern. Doch nach etwa einem Drittel der Zeit wurde der ‹menschengefüllte› Teppich von zwei Männern weggezerrt — und zur Seite geworfen. Eine weitaus weniger gewalttätige Gegenreaktion dürfte die Frau bewogen haben, jenes Stück von 1977 in einem Vortragssaal im österreichischen Bludenz zu beenden, bei dem Flatz sich, bis zum erwähnten Abbruch, fünfzehn Minuten lang von einem Mann ohrfeigen ließ, während das Auditorium Schläger und Geschlagenen auf einem Videomonitor beobachten konnten.

Jochen Gerz hat zwei Jahre später mit seiner Performance Purple cross for absent now ähnlich agiert, als er sich ein Gummiseil um den Hals legte, an dem der Mensch ziehen und das ‹Ergebnis› im Monitor ‹überprüfen› durfte. Es ist jene Apokalypse-Konsumtion, die Leid und Schmerz quasi konserviert liefert und so gegenüber der Wirklichkeit abstumpfen läßt.

Aber auch den Voyeurismus und die direkte Gewaltbereitschaft hat Flatz immer wieder provoziert. So gesehen war seine Aktion, seine Performance von 1979 in Stuttgart, ein Treffer im ärgsten Wortsinn, jedoch nicht etwa deshalb, weil sie einen kommunalen Kulturpolitiker das Amt kosten sollte, da dieser zu verhindern suchte, daß Flatz sich für ein ‹Preisgeld› von 500 Mark mit Dart-Pfeilen bewerfen ließ, sondern weil der Politiker dabei gesehen wurde, wie er sich selbst als Wurfschütze betätigte ...

Den Kulminationspunkt seiner autoaggressiven Performances erreichte Flatz sicherlich mit der zu Sylvester 1990/91 und in der orthodoxen Neujahrsnacht am 14. Januar 1991 in der georgischen Hauptstadt Tiflis (wo er, wie in Leningrad, eine Gastprofessur innehatte): in der dortigen alten Synagoge, die zur Zeit des kommunistischen Regimes als Kader- und nach dem Zusammenbruch als anarchische Kulturstätte benutzt wurde. Er ließ dort zwei 1,50 mal 2,80 Meter große Stahlplatten an die Decke hängen. Zwischen diesen hing er mit dem Kopf nach unten, an den Händen gefesselt. Diese wiederum waren mit einem Seil verbunden, mit dem ein unten stehender Mann Flatz' Körper fünf Minuten lang zwischen den beiden Platten hin- und herpendelte und aufschlagen ließ. Im Anschluß an dieses ‹Glockenläuten› tanzte ein Paar den Kaiserwalzer von Johann Strauss. Wenn dies vordergründig auch eine Provokation ohnegleichen war, so war es doch ein hintergründiger Hinweis auf Geschichte: Zur Zeit der Zaren wurden politisch Unbeugsame in die Glocken gehängt, bis sie ‹sangen›. Und mit dem abschließenden Kaiserwalzer assoziierte Flatz die monarchische, heute nur noch als romantizistische Hülse existierende Hochkultur (Demontage IX, Tiflis 1990/91).

Flatz ist an der Provokation alleine nicht gelegen. Sie ist ihm Mittel zur Irritation, ist «Summe meiner Erfahrungen»3 Aber sie ist ihm auch Hilfe bei der Selbst-Irritation, die ihn Bilder sehen läßt, «die ich selber sehen will, die ich noch nicht kenne oder die ich noch nicht gesehen habe, die natürlich sehr wohl auf die Geschichte Bezug nehmen». Geschichte meint bei ihm sowohl die gesellschaftliche, die politische Historie als auch die in (aller-)nächster Nähe liegende der (Selbst-)Erfahrung. Es ist eine ambivalente, die der Österreicher mit Wohnsitz in München seine «dialektische» Umtriebigkeit zuordnet. «Die Konstitution von Identität», schreibt Georg Schöllhammer, «erfolgt [...] über etwas Entferntes, Vergangenes, von dessen Ähnlichkeit mit dem, was man glaubt zu wissen gewesen zu sein, man gleichzeitig seiner selbst gewiß und seiner selbst unsicher ist.»4

Es ist ein enormer Perfektionsdrang, mit dem Flatz arbeitet. Er hat seine Wurzeln sicherlich in der Ausbildung zum Goldschmied und Metalldesigner. Auch bewarb Flatz sich an der Münchner Akademie der Bildenden Künste in der Goldschmiedeklasse von Hermann Jünger, allerdings mit Photographien seines Körpers (siehe beispielsweise oben). Ihn hat er, aufgrund der Erkenntnis, daß das Schmuckstück als soziales Zeichen keine Funktion mehr hat, zum Organ gemacht, das sein «hohes ästhetisches Bedürfnis», artikuliert, aber auch sozial- und gesellschaftskritische Aussagen transportiert.

Flatz lebt sein immer wieder erwähntes «ästhetisches Bedürfnis», das eben dem Ästhetizistischen, das das Inhaltliche aus dem Formalen ausgrenzt, widerspricht, in allen erdenklichen ‹Räumen› aus. So richtete er 1984 in München den Friseursalon Rosana nicht nur mit von ihm entworfenen Möbeln ein, sondern ersetzte die sonst üblichen Spiegel durch Videokameras bzw. -monitore. Der Narziß foppt seine Kinder. Auch entwirft er Bühnenbilder, etwa an den Münchner Kammerspielen; inszeniert selbst, so für die Opernfestspiele in München; gewinnt, mit Florian Aicher und Uwe Drepper, den Architekturwettbewerb zur berühmt-berüchtigten Münchner Abgasröhre Laimer Unterführung; realisiert die Videoskulptur Modell America (1985), einen elektrischen Stuhl, bei dem ein Delinquent im Todeskampf zu sehen ist; konzipiert Ausstellungen usw.

Das Auseinanderklaffen von Alltags- und Hochkultur ist ein gesellschaftlicher Faktor, den Flatz beharrlich auszuleuchten versucht. Ein Beispiel ist das in verschiedensten Variationen aufgeführte Stück Demontage II. In der Rosenheimer Fassung von 1987 durchbrach Flatz mit einem Preßlufthammer eine Mauer, während eine Sopranistin Lieder deutscher Klassiker sang. Auch hierbei durchkreuzte Flatz die unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven und richtete sein Aggressionspotential gegen das Material. Auch hier, ähnlich der Demontage IX von Tiflis, das romantizistische ‹Liedgut› des Bildungsbürgertums und dort die Funktion der Gewalt, die sich scheinbar entseelt und trivial äußert.

Die Trivialität spielt in Flatz' künstlerischer Intention eine wichtige Rolle. Hier ist er der Pop art näher als der konzeptionellen oder Aktionskunst. Am ausgeprägesten zeigt sich das in seinen Werkserien mit Titeln wie Zeige mir einen Helden und ich zeige Dir eine Tragödie, Einige mehr oder weniger wichtige historische Zwischenfälle oder Die Liebe und der Tod (1990).

Flatz entblößt die Insignien des Pathos', ob es sich dabei um das ‹Repräsentative› weihevoll zelebrierter Hochkultur oder um den ‹Schmuck› des sogenannten kleinen Mannes handelt, indem er sie zu Ikonen erklärt. Letzterem ist er jedoch in jedem Fall mehr verbunden. Für ihn, den gern Belächelten oder auch Ausgelachten im Gesellschaftlichen oder rein Machtpolitischen, ergreift er Partei. Für ihn argumentiert er in einer (narzißtischen) Sprache, die vermeintlich nur die Gebildeten verstehen: in der der Kunst.

Anmerkungen
1 Unveröffentlichtes Konzept–Papier zur documenta-Arbeit
2 a. a. O.
3 Soweit nicht anders gekennzeichnet, entstammen Zitate aus einem Gespräch mit dem Autor am 15. Februar 1992 in München
4 Georg Schöllhammer, Zu den szenischen Konzepten von FLATZ, in: FLATZ, Performances 1974–1982, Demontagen 1987–1991, Kat. Kunstverein München 1991


Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 18.1992

© Für den Text: Detlef Bluemler und Zeitverlag (ehemals WB-Verlag);
für die Flatz-Abbildungen: © Wolfgang Flatz

 
So, 08.11.2009 |  link | (4920) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Bildende Kunst






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