Figur, Körper, Linie, Raum Hella Berent «lst dir schon mal aufgefallen», zitiert Hella Berent Rolf Dieter Brinkmann, «wie irrsinnig zerstückelt die Gegenwart ist, wenn man einen Augenblick auseinandernimmt in seine einzelnen Bestandteile und sie dann neu zusammenstülpt?»1 Daß die 1948 geborene bildende Künstlerin sich auf den Schriftsteller des Jahrgangs 1940 bezieht, dürfte in einer geistig-geographischen, in einer mentalen Verwandtschaft begründet liegen. Beide haben in Italien gelebt, Hella Berent fühlt sich ideell, wenn nicht gar existentiell dorthin gezogen, beide waren Villa-Massimo-Stipendiaten; Brinkmann war Wahl-Kölner2, und für Hella Berent ist die rheinische Kunst-, Künstlermetropole «die südlichste Stadt Deutschlands».3 Sicherlich resultiert diese ‹Verwandtschaft› aus einer Kunstauffassung, in der die Gattungen Wort und Bild (et vice versa) unabdingbar zusammengehören, mehr noch: in der die Kunst, die Künste elementarer Bestandteil des Lebens sind. Der Vogel fliegt nicht weiter, ein Aquarell von 1980, in dem dieser Titel in das Bild integriert ist, dient Helmut Frielinghaus als Beleg: «Das Wort ist Bestandteil des Bildes. Wir, unsere Gedanken und Empfindungen, reagieren auf beides.»4 Bild und Wort waren in der früheren Arbeit von Hella Berent untrennbar miteinander verbunden, und wenn sie in den achtziger Jahren begonnen hat, die Worte in Büchern und Katalogen für sich wirken zu lassen, so stellen sie dennoch Sprach-Bilder, Sprach-Zeichnungen dar. Für ihre Affinität zum Buch mag das Beispiel ihrer Zeichnungsbücher aus in Italien entdecktem, speziell für Gerichtsakten gefertigtem und gebundenem Seidenpapier gelten: diese Papiere ließ sie für ihre Zwecke zu Büchern binden, bevor sie sie — quasi als Raum — füllte mit Linie, mit Figur, mit Farbe. Der Raum nimmt in der Arbeit, im Denken von Hella Berent die zentrale Bedeutung ein: Ihr Raum ist sowohl Mikro- als auch Makrokosmos, der Geist des Individuums ist ebenso Raum wie dessen Körper, Raum ist aber auch der jeweilige Ort, an dem sich Geist und/oder Körper aufhalten; das können unterschiedliche Orte sein. Nie ist eine Grenze, ein Ab-Schluß sichtbar. Universum, Kosmos wären dafür zu verwendende Begriffe, hätten sie seit längerer Zeit nicht eine so schale, den Terminus Esoterik verkehrende ‹Definition› erhalten. Biographie und künstlerische Tätigkeit, bewußter ständiger Ortswechsel und Arbeit gehen miteinander einher: «Als ich 1977 das erste Mal mein eigenes Atelier hatte, das erste Mal allein an einem Ort lebte, in Italien, hat der Raum an diesem Ort eine Ubersetzungsbedeutung bekommen, eine Wechselbeziehung vom Körper zum Außen.» Zwangsläufig zitiert sich der ‹ursprüngliche Raum› aus Psychologie und Philosophie herbei, der den Dualismus von Außen- und Innenraum aufhebt. Weite, Höhe und Tiefe, also Distanzen, werden gleichermaßen als «zwar wirklich aufzeigbare Raumqualitäten» summiert, aber «dennoch ist der Raum nur eine Verwirklichungssphäre dieser in Wahrheit überräumlichen Innenwelt». Jede Raumgliederung und -orientierung ist zugleich schon Möglichkeit, nämlich «das innere Eingehen auf die um uns aufgetane Weite der Welt». Wie der Horizont schiebt sich die Ferne mit der raumlichen Bewegung immer weiter hinaus und hat mit der Zukunft Ähnlichkeit.5 Hella Berent spricht im Zusammenhang mit der Installation Mit dem Sternenzelt auf Augenhöhe (1980) von einem «gedanklichen kosmischen Empfinden», erfährt den «Himmel als Gewölberaum»; dieser Erfahrungsreichtum hebe letztlich die «Abgrenzung des individuellen Raums» auf, ohne daß sie sich selbst auflöse. Im Hamburger Katalog zur Ausstellung im Künstlerhaus (1980) hat sie verdeutlicht, wie sie sich diese Selbst-Erfahrung im Raum vorstellt: Rechts angeordnet steht über dem eingangs erwahnten Zitat von Rolf Dieter Brinkmann die Zeichnung Herz Dezember 1979 Begleitgefühl. Ihr gegenüber ist auf der linken Katalogseite die ‹Ganzheit des Menschen› ideogrammatisch skizziert: Die im ‹Körper› bereits vollzogene Kreuzung oder auch Verschmelzung der Impulse von rechter bzw. Iinker Gehirnhälfte, von Emotio und Ratio oder, wie sie es nennt, von «Bild und Geist» ist wiederum auf Herz Dezember 1979 Begleitgefühl fokussiert.6 Hella Berent schält sich «das Konzept aus meinem Leib» und achtet darauf, «daß die Haut unverletzt bleibt». Ihr «Raum birgt einen Grundriß, Bodenwinkel sind umgestülpte Hauskanten. Sie beginnen zu fließen. Sie sind mein Körper».7 Zum Körper als Vor- und Darstellungsform kam sie über das Phänomen Figur. Zeichnerisch sezierte sie sie quasi bis auf die Knochen, zerlegte sie in ihre Bestandteile, füllte, fühlte sie auf, fügte sie neu zusammen (Nach dem Afrika-Text von Jung gemacht, 1984). Figuration, Figur gaben ihr ‹Halt›. Diesen brauchte sie nicht mehr, als sich für sie, ab Mitte der achtziger Jahre, die begrenzenden Linien der Figur als Einengung herausstellten. Sie hatte begonnen, die Analyse-Partikel des psychischen Raums intuitiv in einen physischen Raum zu übersetzen. Hella Berent nennt sich Zeichnerin. Sie sieht zwar in der eindeutigen Zuordnung die Gefahr, sich «in eine Konvention hineinzudefinieren», aus der sie die Linie jedoch herauslösen möchte. Für sie hat die Linie eine Energie, die sie nicht mehr an das Papier, an das Blatt als sekundärer Bildträger gebunden sehen, sondern in den Raum entlassen möchte. Das bedeutet: Zeichnung als offenes Feld, als grenzfreier Raum für Zeichen, als mikrokosmische Chiffren für einen ganzheitlichen Begriff — jenseits aller Moden. Einen Linienraum stellt sie sich mittlerweile geistig-künstlerisch vor, als Pendant dazu, nicht jedoch als Gegenposition, einen Schwarzraum. Mit der Ablösung der Figur als Eingrenzung schob sich der Horizont immer weiter hinaus. Er manifestierte sich ansatzweise in der (sogenannten Nicht-)Farbe Schwarz, auf die sich in der Folgezeit mehr und mehr konzentriert. In der ‹Zusammenarbeit› von Schwarz und Weiß (als Untergrund) reduzierte sich das Weiß immer mehr, dessen Felder wurden immer kleiner; die Linie als Raumdefinition zog sich zunehmend zurück. Innerhalb dieses Prozesses kam es, seit 1986, zu den Querrippenbildern, in denen sich aus vertikalen Mittelachsen herauswachsende horizontale Linien ergaben. Diese wiederum erforderten eine ‹Kontaktaufnahme› zwischen dem verbliebenen hellen, helleren Untergrund und den dunkleren, schwärzeren Feldern, die immer mehr «Raum gewannen». Aus diesem intuitiven Vorgehen formulierten sich die Zwischenräume als «Licht von hinten», wurden zu Lichtfeldern. Um einen zu harten Kontrast zwischen Schwarz und Weiß zu vermeiden, legte Hella Berent dann bei ihren großen, 3,75 Meter hohen und 1,50 Meter breiten Papierbahnen blaue Flächen an, teilweise aquarellierte oder mit Tempera zum Leuchten gebrachte. Im Nachhinein erst begann sie, die schwarze Pastellkreide hineinzuarbeiten. Später kamen weitere Farben hinzu: Rot, Grün, etwa seit Herbst vergangenen Jahres. Doch die Hinzunahme dieser Farben zielte nicht auf Komposition, sondern war weiteres Mittel bei dem Versuch, den Raum zweidimensional zu fassen. Auch die neu eingesetzten Farben haben, wie das aus dem Schwarz kommende Lichtempfinden, eine geographische, eine mentale Wurzel: der Süden, genauer vielleicht Italien. Dort, während ihrer langjährigen Aufenthalte in Florenz und Rom, hatte sie ja bereits, mit den Büchern, aquarelliertes Blau, Grün und Rot eingesetzt, ebenso in den aus Rom ‹mitgebrachten› Bahnen. Die psychische, die geistige Auseinandersetzung mit der ungeliebten mittel- und nordeuropäischen, vor allem aber der deutschen Mentalität, der sie eine exhibitionistische Individualitätssuche zuordnet, ließ physisch die Farbkontinuität wieder fließen. Zwar hat Hella Berent das Schwarz, Anfang der 80er Jahre, aus ‹nördlichen› Regionen mitgebracht, aus New York, wo sie es nicht als glatte, sondern lichtdurchlässige Fläche entdeckte, aber in den südlicheren neu sehen gelernt. Unwissentlich mag ihre Intuition sie das Adornosche Diktum haben streifen lassen, nach dem das Ideal des Schwarzen inhaltlich eines der tiefsten Impulse von Abstraktion sei.8 Eine weniger philosophische und mehr kunsthistorische, letztendlich jedoch eigene Seh-Erkenntnis stellte sich ihr jedoch vor in der Malerei der Renaissance, beispielsweise in der von Caravaggio und dessen anfänglich spärlichem und später dann gegensätzlichem Hell und Dunkel. Besonders deutlich wird das Dunkel in der sakralen Architektur, in der Kirchenmalerei Italiens, durch die Präsenz bzw. das gezielte Ausnutzen höherer Lichtmengen. Hinzu kommt, daß in einer der religiösen Versenkung dienenden relativen Dunkelheit die Iris, durchaus auch das ‹innere Auge› sich öffnet, so mehr Licht, mehr Helligkeit einläßt und so ein «luzides Schwarz»9 zu produzieren vermag. Bei Hella Berents Schwarz kommt hinzu, daß es ein pigmentenes ist, dessen Partikel auf der Oberfläche liegen und in denen sich darauffallendes Licht bricht. So entsteht ein Zwielicht, das den zwei Dimensionen eine dritte hinzufügt (wenn es nicht bereits die dritte ist!) — und so räumlichen Charakter erhält, zum Raum per se wird. Auch in den neueren, seit Anfang dieses Jahres entstehenden Arbeiten von Hella Berent nimmt das Schwarz zusehends intensiveren Kontakt zueinander auf. Die sich zum (scheinbar unreinen) geometrischen Korpus gewandelte Figur, der räumlich gedachte Körper dehnt sich dahingehend kontinuierlich zum Lichtgebilde aus, das der Ganzheitsgedanke sich neu formiert in relativ kurz hintereinander liegenden Zeitabständen gezeichneten und intuitiv angeordneten Rasterquadraten: Köpfe. In ihnen wird ebenso wie in dem die Geometrie störenden, für dieses Heft gezeichneten (Titel-)Blatt die sich neuerlich herauskristallisierende Dominanz des Schwarz' erkennnbar. Die Kontinuität als conditio sine qua non der Kunst, der Künste zeitigt sich, wo die schwarze Pastellkreide das Tempera-Blau zuzudecken beginnt wie in den vorantreibenden Phasen der großen Bahnen (Rom, April ...). Aus dem Pigmentschwarz hervorgegangen zeichnet sich ein Lichtteppich ab, der zum Lichtkörper, zum Lichtraum wird. Aus der Rauminstallation, die sich in der Arbeit von Hella Berent relativ bald abzeichnen sollte, wird über die die Ratio aufbrechende Anordnung auf der planen Fläche der mit dem Ganzheitsgedanken aufgefüllte Korpus sichtbar. «Das Gehäuse wird zur Welt», schrieb Hanna Hohl 1984 im Katalog zur Ausstellung von Hella Berent in der Hamburger Kunsthalle, «in der die Kunst so notwendig ist wie das Leben.»10 Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 16, München 1991 © Detlef Bluemler und Zeitverlag (ehemals WB-Verlag, Weltkunst und Bruckmann [Text]); für die Berent-Abbildungen: © Hella Berent
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la chose ist das hierher umziehende Archiv von micmac. Letzte Aktualisierung: 30.10.2015, 04:39
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