Form im Zustand der Bewegung Über K. R. H. Sonderborg «Sonderborg, Jahrgang 1923 († 2008), tauchte vor knapp zehn Jahren in der Öffentlichkeit auf und wurde sofort beachtet, obwohl das, was er machte, alles andere als eingängig war. Es war weder tachistisch noch sonstwie einzuordnen, es war, zumindest von 1953 an, ganz singulär, prägte sich ein und war unverkennbar Sonderborg.»1 Diese Charakterisierung von Will Grohmann aus dem Jahr 1961 erhebt auch heute noch, 27 Jahre später und ein Jahr vor dem Ausscheiden Sonderborgs als ‹akademischer Anreger› an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, Anspruch auf Gültigkeit, beschreibt sie doch einen Maler-Zeichner, der trotz seiner kunsthistorischen Zuordnung zum Informel sich eine Eigen-Art bewahrt hat, die über weite Strecken aus dieser ‹Bedeutsamkeit des Formlosen› heraustritt wie sie auch Hinweis gibt auf eine aus den Ereignissen entstandene ‹Philosophie›. Sonderborgs Vita und Kunst entsprechen gleichermaßen dem Diktum von Bazon Brock, nach dem der Künstler jederzeit hinter seiner Arbeit sichtbar sein müsse.2 18 Jahre jung war der im dänischen Sonderborg/Åls geborene und in Hamburg aufgewachsene Kurt Rudolf Hoffmann, als er am 16. März 1942 nach eineinhalbjähriger Gestapo-Haft aus dem Konzentrationslager Fuhlsbüttel entlassen worden war. Der Haftgrund lautete: Anglophilie, staatsabträgliches Verhalten mit dem Ziel, Unruhe unter der Bevölkerung zu stiften. «Zwei Dinge», so erinnert sich der langjährige und gleichaltrige Freund Sonderborgs, der Maler und Kunstpublizist Hans Platschek, «hatten Jugendliche wie Kurt Rudolf Hoffmann zu diesem damals staatsfeindlichen Verhalten gebracht. Einmal waren ihnen die Aufmärsche, der Gleichschritt, der Hitlerjunge Quex, die zackige Redeweise der Wochenschausprecher ebenso zuwider wie überhaupt Uniformen und die Wehr- oder die Arbeitspflicht. Zum anderen übte der Jazz, zumal die Hot-Musik, einen derart nachhaltigen Einfluß aus, daß die Sicherheitsbehörden von einem ‹Bild sittlich-charakterlicher Verwahrlosung› sprachen. Die Jugendlichen nannten sich ‹Swings› [...]. Man begrüßte sich mit ‹Swing-Heil›; das ideale Leben war das ‹Lotterleben›, aus dem sich das Verbum ‹lottern› ableitete [...]. Er schien für dieses Leben schon deshalb prädestiniert, weil sein Vater, Kurt Hoffmann, Jazzmusiker war, Posaunist, unter anderem im Orchester Heinz Wehner.»3 Kurz vor der Entlassung Sonderborgs, der damals noch Hoffmann hieß, erging ein Schreiben Himmlers an Heydrich: «Anliegend übersende ich Ihnen einen Bericht, den mir Reichsjugendführer Axmann über die ‹Swingjugend› in Hamburg zugesandt hat. Ich weiß, daß die Geheime Staatspolizei schon einmal eingegriffen hat. Meines Erachtens muß aber das ganze Übel radikal ausgerottet werden. [...] Der Aufenthalt im Konzentrationslager muß länger, 2–3 Jahre sein. Es muß so klar sein, daß sie nie wieder studieren dürfen.»4 Zwar beschreiben diese Sätze einmal die Stimmung unter einem Teil der jungen Menschen dieser Zeit, wie sie zum anderen den Terror des nationalsozialistischen Regimes dokumentieren. Zitiert seien sie hier jedoch in erster Linie deshalb, weil deren Inhalt Ausgangspunkt für ein Leben wurde, das bis heute unter dem Synonym ‹Swing› firmiert, zu dem allerdings ein, vom Anarchischen bestimmtes, politisches Bewußtsein hinzukommen sollte, darin eingeschlossen ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn. So mußte ein Denkvokabular entstehen, aus dem sich eine Kunst entwickelte, die permanent aus einem immer wachen Beobachtungszustand heraus die Ereignisse der Außenwelt durch einen Filter subjektiver Expressivität preßte. Exemplarisch dafür, wie ungern Sonderborg seine Arbeit in kunsthistorische Laden eingeordnet sah und wie wenig er sich selbst festlegen wollte, mag seine — aus dieser Perspektive also nicht-anekdotische (und später immer wieder getane) — Äußerung gegenüber dem in den fünfziger, sechziger Jahren mit führenden Münchener Galeristen Otto Stangl sein: «lch kann nur soviel zu meinen Bildern sagen, daß ich weiß, daß ich sie gemacht habe, wo ich sie gemacht habe und wann ich sie gemacht habe.» Und, auf der anderen Ebene, nicht minder bezeichnend ist die außerhalb der Sonderborg zugeordneten ›Norm‹ expressiver, non-figurativer Notation gelegene, nahezu ›realistische‹ Darstellung eines Maschinengewehrs zu einer Zeit, in der eine Handvoll Terroristen unter dem Anspruch, die Welt, zumindest aber einen Staat verbessern zu wollen, ein ganzes Land in Atem zu halten vermochte. Besonders interessant ist dabei, daß es Sonderborg sehr wohl um ein Pamphlet gegen die «Perversität» sogenannter Friedenswerkzeuge ging und geht — entgegen den kunsthistorischen Auslegungen und Deutungen, es handele sich bei der ‹abgebildeten› Waffe doch mehr um die schnelle Umsetzung eines optischen Eindrucks (1977).5 Zunächst einmal absolvierte der junge Kurt Rudolf Hoffmann eine kaufmännische Ausbildung, nach deren Ende er als Einkaufsassistent einer Hamburger Exportfirma in die Sowjetunion ging, wo er als «Spaziergänger»6 den Krieg erlebte. Nach der Rückkehr erst ergaben sich intensivere Kontakte zur Kunst, sicherlich über den auch malenden Vater, primär jedoch wohl über den in der Nachbarschaft lebenden Maler Ewald Becker-Carus. Bei ihm, «der sehr merkwürdige abstrakte Bilder malte, die sich zwischen anthroposophischem Schwarm und strenger Stil-Ästhetik hielten»7, nahm er Privatunterricht. Ihm folgte das Studium an der Landeskunstschule Hamburg, das der Malerei und Grafik bei Willem Grimm und das des Textilentwurfs bei Maria May. Bereits während des Studiums, das ihn wegen seiner akademischen Ausrichtung sehr bald «langweilen» sollte, begann Sonderborg, meist in der Natur und bestärkt vom Vater, seinen Vorstellungen von Kunst gemäß zu arbeiten. Bestimmt wurde das Hamburger Kunstklima damals primär von einem gegenständlichen Expressionismus, dessen ‹Väter› Emil Nolde und Edward Munch waren. Neben deren Anhängern hatte sich eine kleine Gruppe gebildet, die einer freieren Abstraktion huldigte und die ihren Ursprung in Rudolf Steiners theosophischem Denken hatte. Recht bald sollte Sonderborg sich davon in Richtung eines Umfeldes lösen, das ihn bis heute fasziniert und ihm Sujets bietet: zunächst einmal der große Strom Elbe und der Hamburger Hafen (1952) mit seinen (Kriegs-)Pontons, Schiffen und Kränen sowie die Geleise der Güterbahnhöfe, zu denen später die Metropolen und ihre Flughäfen kommen sollten. Sonderborg erarbeitete schon früh ganze Schriften «aus bildnerischen Ideogrammen, eine Grammatik, ein Wörterbuch, das das Begriffliche und Verbale, mit deren vorgeformten Klischees wir unsere Wirklichkeit und die Erlebnisse in ihr beschreiben, beiseite schob und für innere Bewegung und wahrgenommene Sensationen eigene prägnante Zeichen erfand, die in eine neue Welt von Bildern hineinreichten, die etwas Ungesagtes und verbal auch Unsagbares durch bildnerische Spur anschaulich machten. Sie reichten von Abbreviaturen figuraler Bewegungen bis zu reinen, nur meditativ erfahrbaren Psychogrammen, Bewegung und Geschwindigkeit waren die Grundsensationen.»8 Bereits 1949 stand die erste (Gruppen-)Ausstellung an, im Hamburger Kunstverein, der sich, nach der im Hamburger Völkerkundemuseum 1950, dann 1951 eine weitere anschloß (dem Jahr, in dem er den Namen seiner Geburtsstadt annahm). Es folgte der beharrliche und sehr bald beachtete Versuch, die Grenze zwischen Chaos und Norm darzustellen, kompositorische Strenge, die ihm (und anderen, wie etwa seinen späteren ›informellen‹ Weggefährten Karl Fred Dahmen, K. O. Götz, Gerhard Hoehme, Bernard Schultze, Emil Schumacher, Fred Thieler und Hann Trier) als Fortführung des kriegerischen Gleichschritts erschienen sein mußte, mit rasant formulierter Spontaneität zu durchwirken, gleichwohl ihn, anders als etwa Schultze, der «die Technik, das Technische, das Glatte»9, solches eher betroffen machte, verunsicherte.10 So scheint die reine Zuordnung von Sonderborgs Malerei und Zeichnung zum lnformel problematisch. Er selbst ging 1982 gegen diese kunsthistorische Wertung an, indem er fragte, ob er überhaupt ein ‹informeller› Künstler sei11, also jemand, der nur nach dem Prinzip von Geschwindigkeit und Bewegung arbeite. Es kann nach diesen Kriterien allein, wie Werner Schmalenbach schreibt, «die Kunst eines so ausgezeichneten Künstlers wie Sonderborg nicht etikettiert werden. [...] Daß sie dem Tempo huldigt, ist offenbar. Aber das betrifft schließlich nicht den geistigen Inhalt der Bilder, sondern nur den Stil, in dem sich die geistige Beunruhigung hier äußert. Der ‹Gehalt› ist das Leben in jenem totaleren Sinne, der es verbietet, das ‹Geistige› abzuspalten und nach einem geistigen Gehalt überhaupt zu fragen.»12 Nach Schmalenbach besteht keinerlei Zweifel, daß es bei Sonderborg um Form geht.13 Es sind allerdings über die Ufer tretende Formen, die in ihrer Dynamik alle Abschottungen gegen den freien Fluß der Linien ignorieren. Es ist die Form, die bei Sonderborg explodiert. Die Splitter zeugen von ihrem einstigen Ursprung: dem geometrischen ‹Maß›. Das mag die Versammlung von Maschinen, Kränen im Hafen sein, ein formatives Grundmuster wie bei Pequod von 1953 oder die physikalischen Verläufe von Bewegungen. Auch in Gemälden und Zeichnungen, in denen der Duktus ‹informelle› Eigendynamik entwickelt, scheinen Spuren auf, die eine Affinität zur Faszination künstlerisch-utopischer Manifestationen zu Beginn unseres Jahrhunderts haben. Es ist die ‹geistige Beunruhigung›, der ‹geistige Gehalt› der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, was Künstler wie Sonderborg zumindest malerisch zum ‹Informel› trieb, jener «Bedeutsamkeit des Formlosen», einer aus Frankreich kommenden Richtung, die ihren Namen von dem Kritiker Michel Tapié erhielt. Es war eine Mal-Methode, die der surrealistischen Theorie des «Denkstroms» von Andre Breton entlehnt worden war: der Automatismus, das unbewußte und unkontrollierte Dahinströmen aus dem Ich. Der Begriff Surrealismus ist eine von André Breton erdachte Substantivierung des Adjektives surrealiste — geprägt 1917 von Guillaume Apollinaire —, der in sich das Wahrheits- und Wirklichkeitsverlangen der Bewegung und der weltentdeckenden Realität zusammenfaßt. Also nicht Wahrheitssuche und Wirklichkeit, nicht Traum und Realität als Gegensatz, sondern synthetische Vereinigung. Dabei existiert das Faktische der Realisten sehr wohl bei den Surrealisten. Sie sehen es jedoch nicht so vordergründig in der reinen Abbildung des Gesehenen, für sie ist es hintergründiger, viel-sinniger, eben weitaus weniger banal, so, wie es der Romantiker Novalis sieht: «Die beste Poesie liegt uns ganz nahe und ein gewöhnlicher Gegenstand ist nicht selten ihr liebster Stoff.» Paul Eluard bemerkte, dem Romantiker sei der Inhalt eines Wasserglases ebenso von poetischer Bedeutung wie der Meeresgrund, und er fügte hinzu, daß der von den Kunstwerken der Museen Gelangweilte in die wirkliche Wirklichkeit fliehe. Dem entspricht exakt die (also keineswegs kokette) Aussage Sonderborgs — der viele Jahre in Paris lebte —, den Louvre kenne er nur vom Vorbeidonnern mit seinem Porsche. Und weiterführend beschreibt ein Satz von Breton den Romantiker in Sonderborg: «Draußen hielt die Straße tausende von wirklichen Verzauberungen für mich bereit.» Die zwar dem Romantischen immanente, aber auch dem philosophischen Aspekt einer bewußtseinsorientierten, geistige Haltung wurzelt in dem bemerkenswerten Zusatz, den Breton seinem ‹Ersten surrealistischen Manifest› von 1924 anfügte: «Wenn die Tiefen unseres Geistes seltsame Kräfte bergen, die imstande sind, die Oberfläche zu mehren oder gar zu besiegen, so haben wir allen Grund, sie zuerst einzufangen und danach, wenn nötig, der Kontrolle unserer Vernunft zu unterwerfen.»14 Gerade dieser Kontrollmechanismus Vernunft dürfte, darauf verweisen viele seiner Äußerungen, bei Sonderborgs ‹Mal-Automatismus› eine gewichtige Rolle gespielt haben, etwa im Sinne von Willi Baumeisters Verteidigung der modernen Kunst gegen Sedlmayr und Hausenstein: «Der Künstler ist nicht nur angenabelt an den Weltstoff. Seine ‹Mitte› ist selbst ‹Weltstoff› übrigens damit auch Weltgewissen und Verantwortung.»15 Baumeisters ‹Mitte› beschreibt darüber hinaus einen Zustand, der auf die ‹Leere› fernöstlicher Weisheit hinzielt, einer angestrebten, nicht mehr vorhandenen Unterschiedenheit, die es aufzufüllen gilt. Da heraus resultierte unter anderem die Gründung der von Baumeister, Cavael, Fietz, Geiger, Hempel und Meier-Denninghoff 1949 installierten Gruppe ZEN 49. Es war die Suche nach einer neuen Spiritualität, der sich Sonderborg 1953 nach der Aufforderung von Baumeister angeschlossen hatte und die sich auch in seiner Arbeit niederschlagen sollte, etwa in seiner meditativ anmutenden Zeichnung, 5.8.1953, andererseits er jedoch von einer Außenwelt vorangetrieben war, die dem Dynamismus der Aufbruchzeit fünziger Jahre huldigte und sich in entsprechenden Charakterisierungen wie Überschall, 25.9.1953 äußerte. Überhaupt hat es in allen seinen Schaffensphasen parallel zueinander stillere, nach innen gerichtete, und ‹vorwärts› signalisierende Zeichnungen und Bilder gegeben. Sonderborg hat es nie lange an einem Ort gehalten. Wie in seiner Kunst bedurfte es immer der Bewegung, die ihn mit hoher Geschwindigkeit von Punkt zu Punkt, von Ort zu Ort brachte. Vor allem die Millionenstädte in ihrer Dynamik und ihren ›Geräuschbildern‹ ziehen ihn an. In Paris, dem Mekka der Künstler in den fünfziger und sechziger Jahren, hat er bis heute eine Wohnung. Vom hektischen Chicago kann er mit Begeisterung erzählen wie ein Junge. Dort ist er ebenso zuhause wie in seiner Neu- oder Wiederentdeckung Berlin. In den Zentren ist er heute noch ‹Swingboy› der gerne gut ißt, tagelang um die Häuser zieht, in Jazz-Clubs den Rhythmus aufsaugt. Stunden, oft Tage, dauert der Zustand des Verharrens und Abwartens, bis das Procedere des Mal-Akts beginnt. Mit Vorliebe nutzt er das Hotelzimmer oder aber irgendeinen Raum, in dem er sich ausbreiten kann, als Atelier. Auf jeden Fall braucht es Platz auf dem Fußboden, wo er Leinwände oder Zeichenkartons, Farben und jegliches andere Malgerät wie Pinsel, Spachtel, Scheibenwischer, Kratzer, Messer und was auch immer griffbereit anordnen kann. Im Malprozeß selbst erreicht er «ein Höchstmaß an Wachheit und Konzentration», das ihn jedoch «nicht an einer gleichzeitig bestehenden, kontemplativen Ruhe und Übersicht hindert». In diesem Zustand gerät ihm beim Malen nichts außer Kontrolle. Es kann Stunden dauern, bis er seine Utensilien vorbereitet hat. Häufig korrigiert er hier und dort den Standort, um sich später einen exakten Bewegungsablauf garantieren zu können. Im Verlauf der wachsenden Anspannung geschieht es oft, daß er mit dem Malen oder Zeichnen so lange wartet, bis es ihn in das leere Blatt ‹hineinreißt›. Dann geht er plötzlich mit der Farbe auf das Papier, auf die Leinwand. Den nach oben gerichteten schwarzen, breiten, blitzartigen Pfeil zerreißen schnelle, diagonal und vertikal geführte Schläge mit einem trockenen Pinsel. Auf das großflächig getupfte Rot kommen schwingende Verläufe von Schwarz. Pinselstil, Kratzer oder Lappen holen den Blattgrund optisch wieder hervor. Immer wieder entstehen Pausen, in denen er breitbeinig über dem Bild steht, überprüft, ob und wohin der Schwerpunkt des Gemäldes zu verlagern ist. Dann befreit er ein Drittel des Blattes von den Grundfarben Schwarz und Rot, gibt ihm eine weiße Grundierung, auf die er wiederum mit einem in Rot getauchten Pinsel stößt, links oben ein aufgehelltes Ocker-Farbfeld anlegt, immer wieder zerrissen und zerkratzt. Hält er die Arbeit für abgeschlossen, gibt er ihr einen Titel, hier beispielsweise 3.5.1963, 21.02-21.21 h — ‹action painting›, exakter: Sonderborg als «Brücke zwischen dem europäischen und dem amerikanischen ‹action painting›».16 Sonderborgs Gemälde und Zeichnungen sind die Versammlungen audio-visueller Eindrücke, die er seit den sechziger Jahren durchweg lediglich datiert, unter genauer Angabe der Zeit-Punkte, innerhalb derer er gearbeitet hat. Diese Titel gibt er seinen Bildern jedoch nicht etwa, weil er auf den (für das Informel typischen) relativ kurzen Zeitraum des Entstehens verweisen will, sondern weil sie ihn daran erinnern und den Betrachter darauf hinweisen, wann, wo und zu welcher Zeit er sie gemacht hat. Jede weitere selbstinterpretatorische Angabe zu seinen Arbeiten lehnt er ab. Es sind Zeichen, semantische Annäherungen an seine Außenwelt, die bisweilen Gegenständlichkeit evozieren. Da sind reflexhaft zusammengefaßte, mit schnellen Strichen wiedergegebene Ausblicke in das Großstadtgetriebe oder die Abschottung gegen den Außenraum, die Konzentration auf die unmittelbare Umgebung wie bei Fenster, 27. April 1965, 11.31–12.43 h. Bisweilen entsteht der Eindruck photographischer Genauigkeit, während in anderen Arbeiten statische Ruhe und tachistisch formulierte Geschwindigkeit kombiniert und in das Zeichenhaft-Assoziative eingeordnet sind. Blätter, die wie Partituren anmuten, lassen den interpretatorischen Hinweis auf Sonderborgs Freude am Jazz, an der Musik überhaupt zu und sind doch wieder nichts anderes als spontan zu Blatt gebrachte Reflexionen über Schwingungsabläufe. «Auf der einen Seite», so Helmut Heißenbüttel, «steht das, was schon Leonardo als Ausbildung der Bildphantasie bezeichnet hat durch Strukturen, die der Zufall, ohne Absicht einer abbildlichen Genauigkeit, hergestellt hat. [...] Oder das, was Redon aus den Rußschwärzungen seiner Kaminwand erraten wollte an Bild. Auf der anderen Seite steht der reine Akt, wie ihn Sonderborg in seiner Zeitangabe eingefroren hat. Stehen die Tropfspuren der verschütteten Farbe, die Pollock laufen ließ, ohne daß er wußte, zu welchen Bildzusammenhängen sie sich schließen oder nicht schließen würden.»17 Es ist das Gefühl, das Sonderborg malen oder zeichnen will, er will gliedern, was auf ihn einstürzt, und doch dem Fluß, im Hinblick auf sein Ziel, freien Lauf lassen. Nicht die Ordnung ist seine Direktion, sondern das selbstbestimmte Ordnen des positiven Chaos'. Es ging und geht ihm darum, mittels einer ihm eigenen Technik zu fixieren, was Geräusch, Geschwindigkeit und Bewegung zu einem Knäuel ballt. Die Gemälde Sonderborgs unterscheiden sich wesentlich von seinen Zeichnungen. Im Gemälde ist die Farbe der Zustand, den er durch kratzendes oder reibendes Entfernen (schnell trocknender Materialien wie Eitempera oder– später — Acryl) in eine ‹innere› Form bringt; hier transportiert der Duktus die stilistische Affinität zum Informel. Zeichnet er mit der Feder, kann er nicht wegnehmen, muß er die Bewegung zielgerichteter laufen lassen. So entsteht aus der Erinnerung eine unmittelbare Nähe zur Gegenständlichkeit. Das in das Gemälde komprimierte Detail trägt sich in der Zeichnung offener, bedächtiger. Die Geschwindigkeit der Bewegung wird reduziert, die Form wird leichter und gewinnt dennoch an Gewicht durch ihre Affinität zur Analyse, auch dann, wenn nach unten ziehende Linien einen wie bei der Malerei unbeeinflußten Verlauf der Farbe suggerieren. Und wenn Sonderborg in seinen Zeichnungen bisweilen Linien abschabt oder abklebt, um eine verstärktere Bilddichte zu erreichen, assoziiert dies einmal mehr — und sei es aus dem ‹Unbewußten› heraus — die Suche nach der Form. Der Suche nach der Spur erbringt, in der Umkehrung des (hier) Zeichen-Aktes, das Legen einer Spur.18 Die Wirklichkeiten des Alltags sind in Sonderborgs Werk von zentraler Bedeutung. Wie sie in der Literatur häufig zwischen den Zeilen verborgen sind, verbirgt er sie gerne zwischen den von ihm gelegten Mal-Spuren. Indem er dem Alltäglichen und der darin enthaltenen Realität19 ‹seinen› Sinn gibt, gerät er bisweilen — je nach Perspektive — in das Fahrwasser ‹mythischer› Betrachtungsweisen, wie sie im allgemeinen der Rezeption des Informel immanent sind. Doch Sonderborgs Wirklichkeitsnähe läßt klischeehafte Sinn-lnterpretationen nicht zu. Indem er dem von ihm Gesehenen und in das Bild Umgesetzten einen extrem subjektiven Sinn gibt, entweicht er eventuell aufkommender Beliebigkeit. Er fügt seinem Erlebten, seiner Erinnerung, zu der hinlänglich bekannten Geschichte eine neue, im Fluß des Unterbewußten wurzelnde hinzu — und trägt damit zur InFormation bei. Dabei geht es Sonderborg, der sich wiederholt geäußert hat, ängstlich und verunsichert zu sein in einer über alle Maßen technisierten und technokratisierten Welt20, nicht um eine Rezeptur zur Lebensbewältigung. Es liegt näher, ihm zu unterstellen, es gehe ihm darum, dem von der Gesellschaft bedrängten und deshalb instabilen Subjekt das Vermuten-Dürfen wiedergeben zu wollen. Jede andere Interpretation seiner Arbeit versuchte, ihn in die Nähe des reinen Spiels mit der Wahrnehmung zu rücken, der technischen Suche nach der Geschwindigkeit und dem Vergehen von Zeit. Die kunsthistorische Position des Informel und insbesondere die von K. R. H. Sonderborg beschreibt eine bis heute eigenartige, seltsame Rezeption. Wie Götz, Hoehme, Schultze, Thieler und Trier war auch er in der Londoner Ausstellung Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert der Royal Academy nicht vertreten; also jene Künstler, die nach dem zwölfjährigen Terror die wieder eroberte künstlerische Freiheit symbolisierten. Die Stuttgarter Staatsgalerie, die die Ausstellung aus London übernahm, gewährte Sonderborg jedoch 1987 eine große Einzelschau, der die Stadt in ihrer Galerie, verbunden mit dem Molfentner-Preis, 1988 eine weitere folgen ließ. Also hier Verschweigen und dort höchste Ehrung. Dabei verkörpert Sonderborg wie kaum ein anderer künstlerische Erneuerung in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Er steht für ein reflexives ebenso wie aktives, das heißt künstlerisch-kritisches Tun, das, in Gemeinsamkeit mit vielen seiner Generation, dem westlichen Teil Deutschlands wieder zu internationaler Reputation verholfen hat. Sonderborgs Arbeiten sind Zeugnisse einer bis ins kleinste beobachtenden Umsetzungsfähigkeit eines Nachkriegsdynamismus, der einen gänzlich anderen Aufbruchcharakter hatte als der der ersten beiden Dezennien unseres Jahrhunderts. Sonderborg setzte und setzt mit seinen eigenen malerischen und zeichnerischen Mitteln, mit einem gänzlich innovativen Vokabular, entgegen aller kunstgeschichtsklitternden Bestrebungen die Moderne fort, potentielle Ausuferungen technokratischer und rein materiell orientierter Art21 ständig im Blickfeld haltend. Sonderborgs Werk liegt in der Auseinandersetzung um Begriffe wie Moderne und Postmoderne dem ersten sicherlich näher als dem zweiten; etwa im Sinne der Habermasschen These vom ‹Unvollendeten Projekt Moderne›. Die Kontinuität der künstlerischen Auseinandersetzung Sonderborgs über vier Jahrzehnte hin ist offensichtlich. Es zählt der anfängliche Versuch, bereits in den späten vierziger und dann in den fünfziger Jahren, sich auf spirituellem Weg von den Einflüssen diktatorischer und dann antiaufklärerischer Vermassung radikal zu entfernen, ein Ich zu finden. Und es greift die Tatsache, daß er von den sechziger Jahren an dieses Ich der Utopie einer aus Individuen bestehenden Gemeinschaft zur Verfügung stellte, indem er objektive Konflikte immer wieder durch subjektive Filtration kenntlich machte. Zwar hat Sonderborg sich im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte mehr dem Inhaltlichen zugewandt (wenn auch in der abstrakten Formulierung), hat den Begriff Wirklichkeit gestisch be- und umschreibend in eine dem Künstlerischen immanente Internationalität eingebracht. Dennoch hat er mit seiner Arbeit mehr für eine ‹nationale› Identität getan als so manch anderer, der Chiffren und Formen vergangener (und eben häufig negativ besetzter) Zeiten in den Zustand des ‹objektiv› Benutzbaren erhebt. Er steht einerseits — gemeinsam mit den Weggefährten des Informel — für Begriffe wie Impulsivität, Expressivität, Spontaneität, Bewegung und Dynamik. Aber solche wie ‹Dynamik‹ als kritisch-analytisch abstrahierende Geisteshaltung zeichnen ihn darüber hinaus als einen Künstler aus, der sich den Zeit-Läufen nicht (mehr) regulierbarer Politik entgegenstellt. «Maler wie Fred Thieler», schrieb Werner Haftmann 1954, «sind jetzt daran, das vom ‹Blauen Reiter› ererbte romantische Ausdrucksgefüge durch dynamische und psychomotorische Formen aufzubrechen. Andere wie Hoffmann-Sonderborg suchen in der explosiven Niederschrift Mitteilungen einer Zustandserfahrung konkret zu machen.»22 So ist das — 44 Jahre danach. Anmerkungen 1 Will Grohmann, K.R.H. Sonderborg, in: Quadrum,1961, Nr.10, S. 131 2 Detlef Bluemler, in: Der begradigte (J. S.) Bach — Fragen zu Ökologie und Ästhetik, Vortrag, zuerst gehalten an der Münchner Akademie der Bildenden Künste am 13. Dezember 1983 3 Hans Platschek, K.R.H. Sonderborg: Eine Vorgeschichte, in: Kat. K.R.H. Sonderborg, XPO Galerie, Hamburg 1985, S. 6ff. 4 ebd., S. 8 5 Georg-W. Költzsch (Hrsg.), Deutsches Informel. Symposion Informel, 2. Aufl., Berlin 1986, S. 123 6 ebd., S. 124 7 Werner Haftmann, K.R.H. Sonderborg, in: Kat. K.R.H. Sonderborg, Ulmer Museum, Ulm 1977, S. 10 8 ebd., S. 14 9 s. Anm.5, S. 124 10 ebd. 11 ebd., S. 120 12 Werner Schmalenbach, K.R.H. Sonderborg, in: Hermann Reusch u. a. (Hrsg.), Junge Künstler 1958/59, Köln 1958, S. 51 13 ebd., S. 42 14 Zitiert nach: Georg-W. Költzsch, Willkür des Unbewußten? Kritische Anmerkungen zur Bedeutung des deutschen Informel, Kat. K. O. Götz, Städt. Kunsthalle Düsseldorf 1984, S. 136 15 Zitiert nach: Willi Baumeister, Verteidigung der modernen Kunst gegen Sedlmayr und Hausenstein, in: Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 1, München 1988, S. 14 16 Una E. Johnson, Drawings of the Masters. 20th Century Drawings, Part 11. 1940 to the Present, New York 1964, S. 138 17 Helmut Heißenbüttel, Die Zweifel des Informellen, in: Kat. K.R.H. Sonderborg, Chicago Series 1986, Galerie der Stadt Stuttgart 1987, S. 9 18 K.R.H.S., in: Kat. aktiv-abstrakt, Neue Malerei in Deutschland, Städt. Galerie München 1957 19 Nach Henri Lefebvre ist der Alltag die eigentliche menschliche Realität: die unterdruckten Dramen, die unartikulierten Situationen, Ereignisse und Geschichten außerhalb der Historie; das Banale, Nebensachliche, das voller Bedeutung ist. 20 s. Anm. 5, S. 124 21 Detlef Bluemler, Die vergewaltigte Moderne. 40 Jahre Nachkriegsarchitektur in der Bundesrepublik — Eine Bilanz. Vortrag an der Akademie der Bildenden Künste, München, Mai 1986; Beitrag für den Westdeutschen Rundfunk, Köln 22 Werner Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert, München 1954, S. 463 Der Autor ist Gründungsherausgeber von Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst (seit 1988), betreute bis 2006 verantwortlich dessen Redaktion und ist nun als Kunst- sowie Kulturpublizist tätig (Mitglied von aica, Internationaler Kunstkritikerverband). Er lebt in Hamburg und im südfranzösischen l'Estaque. Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 4, 1988 © Für den Text: Detlef Bluemler und Zeitverlag (ehemals WB-Verlag, München); für die Sonderborg-Abbildungen: © Nachlaß K.R.H. Sonderborg († 2008) Siehe auch: «Du hast so überhebliche Augen», Interview mit K. R. H. Sonderborg Sonderborg und das Informel, ein Beitrag von Bettina Ruhrberg
|
la chose ist das hierher umziehende Archiv von micmac. Letzte Aktualisierung: 30.10.2015, 04:39
Zum Kommentieren bitte anmelden.
? Aktuelle Seite ? Themen ? Impressum ? Blogger.de ? Spenden Letzte Kommentare: / «Das Sprechen (micmac) / Christoph Rihs: (micmac) / Rihs (micmac) / Frühe Köpfe (micmac) / Rihs' Wort-Spiel (micmac) / Für eine Sprache (micmac) / Ein Bild machen (micmac)
Suche: Alle Rechte liegen bei © micmac. |
|