Schirn und Staatskanzlei Ein Wort ist in vieler Munde: Schirn. Nein, kein verunglückter Schirm, wie manche vermuteten, Kunsthalle Schirn. So heißt das umstrittene Bauprojekt zwischen Römer und Frankfurter Dom. Wir haben über die architektonische Seite der Sache hier am Samstag ausführlich darüber berichtet. Die Suche nach der sprachlichen Ableitung des Begriffes Schirn war dabei schwieriger als erwartet. Selbst gebürtige Hessen sahen sich außerstande, es zu erklären. Die Rede war von nach allen Seiten offenen Metzgerständen, wie sie im Mittelalter auf dem traditionsreichen Platz in Frankfurt zu finden waren. Nun, wie zu hören ist, soll es unter der großen Rotunde ebenfalls sehr zugig sein. Da liegt denn wohl auch der Vergleichspunkt. Erst nach dem Durchblättern mehrerer Bücher fand sich in einem, kurz und bündig, folgender Hinweis: Schirn, weiblich, plural: die Schirne; hochdeutsch also: Fleischerladen, sprachlich stammend aus dem Hessisch-Rheinländischen. Eine ethymologische Ableitung fehlte ganz. Die Vermutung eines Kollegen, daß Schirn von Scheuer komme, kann hier nur in den Raum gestellt werden, den Philologen zur Freude. So grobschlächtig wie die Bezeichnung für das Bauwerk scheint auch das Bauprojekt selbst zu sein. Mit ihm ist die Architektur wieder einmal ins Gerede gekommen. Und, wie das Gesetz der Serie es will, soll im ersten Beitrag dieser Sendung von einem anderen Projekt ähnlichen Kalibers die Rede sein. In München soll in den Hofgarten eine Staatskanzlei gesetzt werden. Anders als in Frankfurt reagiert das bayerische Volkstemperament da voller Groll. Zu Beginn also, sehr kontrovers, das Thema Architektur. Über die Pläne und das Für und Wider, in den Münchner Hofgarten eine Staatskanzlei zu setzen, hören Sie nun bitte den Kommentar von Detlef Bluemler — am Mikrophon: Horst-Helmuth Kaiser. An historisch bedeutsamer Architektur ist die bayerische Landeshauptstadt gewiß nicht arm. Mit viel Aufwand hat man nach dem Krieg selbst völlig zerstörte, baugeschichtlich wertvolle Substanz wieder rekonstruiert. Ein Musterbeispiel dafür ist die ehemalige Residenz der Wittelsbacher: ein unvergleichliches Gebäudeensemble aus Renaissance, Rokoko und Klassizismus, in dem heute ausnahmslos die Musen beherbergt sind: Museen, Theater, Konzertsäle, Akademien, der Kunstverein und verschiedene Galerien. Und zur Residenz gehört der Hofgarten: ein filigranes Stück städtebaulicher Kunst. Doch dies wird jetzt zerstört, zerstört von einem architektonischen Unding, dem die Bevölkerung einen adäquaten Namen verpaßt hat: Reichskanzlei. Gemeint ist der Neubau der bayerischen Staatskanzlei. Die Argumentation gegen diese protzige, gigantomanische Herrschaftsarchitektur ging und geht mittlerweile durch alle politischen und unpolitischen Gruppierungen. So wetterte unlängst Dieter Schröder, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, die geplante Staatskanzlei sei «pompös-scheußlich», und Rudolf Schöfberger, Landesvorsitzender der bayerischen SPD und für seine Partei im Bundestag, meinte: Mit diesem «Straußoleum» nähmen Größenwahnsinnige erfahrungsgemäß auf eine Kulturlandschaft mit einer in Jahrhunderten gewachsenen und liebgewordenen Stadt- und Landschaftsarchitektur keine Rücksicht. Seit dem Spätsommer vergangenen Jahres schwelt es unter der Münchner Bevölkerung. Da nämlich hatten einige sach- und fachkundige Pressevertreter die Planung genauer unter die Lupe genommen; eine Planung, die der Münchner Stadtrat schlichtweg verschlafen hatte. Erst als die Vertreter aller Medien auf das aufmerksam gemacht hatten, was in Zukunft dem Hofgarten Licht, Luft und Sonne nehmen sollte, wachte man im Münchner Rathaus auf — und klagte. Die Stadt, die 1984 selbst dem Bebauungsplan für das Gelände an der Ostflanke des Hofgartens zugestimmt hatte, wollte verhindern, daß erste vorbereitende Maßnahmen auf dem Baugelände stattfinden. Doch das hat Anfang der vergangenen Woche das Münchner Verwaltungsgericht abgeschmettert. Und zugleich hat es deutlich gemacht, daß auch die Klage gegen die Baugenehmigung, so wörtlich, «nach der derzeitigen Sach- und Rechtslage» kaum Aussicht auf Erfolg habe. Und Staatssekretär Edmund Stoiber, Leiter der Bayerischen Staatskanzlei, hat nun verkündet: Mit den Bauverbereitungen werde unverzüglich begonnen. Von der unglücklichen, weil viel zu spät kommenden Klage der Stadt München mal abgesehen: man hat alles versucht. Da ist ein Alternativentwurf des Architekten Stephan Braunfels. Da gab es eine Demonstration tausender Münchner gegen diese Architektur. Da sind zehntausende von Unterschriften von Münchnern und München-Besuchern. Da sind Vorschläge, das Gelände so zu bebauen, daß die kulturelle Einheit gewahrt ist. Zum Beispiel wäre Platz für die längst fällige Neue Staatsgalerie moderner Kunst. Man hat seitens der Stadt einen wirklich geeigneten Alternativstandort für die neue Staatskanzlei angeboten mit der Zusage, so schnell als möglich einen entsprechenden Bebauungsplan zu verabschieden. Aber nein. Strauß hat's befohlen, und Stoiber hat's kundgetan: Es wird, seit Montag, gebaut. Strauß wehrt sich, mit eigenen Worten, gegen die «Münchner Kunst- und Kulturmafia». Und nach Stoiber entspringt dieser Protest gegen dieses Architektur-Monstrum im Hofgarten einem «kleinkarierten Spießerdenken». Da fällt es wohl auch nicht weiter ins Gewicht, daß man, angeblich erst vor kurzem, auf dem Baugelände wertvolle historische Funde gemacht hat. Südwestfunk Baden-Baden, Kultur aktuell, Sommer 1986, SWF 2 (genaues Sendedatum nicht mehr in Erinnerung)
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