Poetische Vernunft

Über Christoph Rihs

«Künstler ist jemand, der darauf besteht, hinter den Aussagen, die er trifft, selber sichtbar zu bleiben, nicht wie in der Wissenschaft, wo in einem hohen Grade anonymisiert werden soll bis hin zu der Anonymität der Aussage eines Gesetzes, als sei es vom Himmel gefallen.»1 Das sind Bazon Brocks Worte. Lucius Grisebach ist ebenso gegen eine »namenlose Kunstbetrachtung, doch er warnt: Es geschehe häufig, daß man die Künstler nicht ihrer «Kunst wegen liebt, sondern weil sie dem Bürger so schön verloren erscheinen».2

«Die Schweizer», so Bertrand Theubet, «überleben eben eher, als daß sie leben.»3 Christoph Rihs ist Schweizer. Geboren ist er im libanesischen Beirut. Überlebt hat er in Biel oder Bienne. Dort hat er seine Maturaprüfung absolviert. Dazu gehörte das Französische. Es liegt hinter dem sogenannten Rösti-Graben, der auch Mentalitäten trennt. Und beim letzten (wirklichen?) euro-mondialen Grenzhäuschen setzt eine andere der vielen schweizerischen Sprachen ein: das Italienische. In ihm hat Rihs sich ebenfalls einige Zeit wie in Mamas Sprach- und Mentalitätschoß gefühlt. Unter anderem 1983 bis 1984 in Rom. Entscheidende, lange Jahre stand sein Atelier im rheinischen Düsseldorf, wo er studiert hat. Im burgundischen Bourguignon ruht ein ehemaliger Bauernhof. In dem erwartet man jeden Augenblick, daß es heißt ‹Film ab› und die Pariser zur Landpartie des Week-ends einrollen. Doch es kommt ein eher derber Kastenwagen. Aus ihm hüpfen dann: französischer Hund, US-amerikanische Mutter einer gemischten Tochter und der dazugehörige Papa. Man möchte die Internationale singen.

Die Rihs-Familie hat eine davon erhellte Wohnung inmitten der Heim-Stadt der deutschen Klassik: Weimar. Doch nicht in der heimeligen Stadt der Goethe-Aufkleber lebt die Rihs-Familie (auch), sondern in der Heimstatt der Bauhaus-Universität. Bauhaus — die Werkstatt der Moderne. Am Bauhaus herrschte eine Vernunft, deren Aufklärungskanal so berechnet war, daß der bisweilen ausufernde Wildbach Romantik (s)eine Aue hatte. Aus Liberté, Égalité, Fraternité flossen Vielfalt, Ganzheit, Einheit und wieder zurück. Jeder Mensch ist ein Künstler. Das hat Beuys so nie gesagt. Beuys meinte allenfalls, jeder Mensch sei kreativ. Beuys kannte die Romantik gut. Sein vielzitierter ‹anderer Kunstbegriff› ist in ihr, ist (auch) in Novalis beheimatet. Vielleicht ist es Beuys ja so ergangen wie dem armen Juden bei Kurt Tucholsky. Der erfand eines Tages etwas: die Differentialrechnung. Doch als er in die große Stadt kam, stellte er fest, daß sie bereits erfunden war. Es gibt keinen Neuschnee.4

Christoph Rihs entdeckt ebenfalls ständig Neues im Bestehenden, zum Beispiel in der Geometrie, diesem «Teilgebiet der Mathematik, das aus der Beschäftigung mit den Eigenschaften und Formen des Raumes, wie der Gestalt ebener und räumlicher Figuren, Berechnung von Längen, Flächen, Inhalten [...] entstand».5 Er weiß um diese Vernunft, die sich aus der Verknüpfung von Erkenntnissen ergibt. Geometrie? Orientierung: «Das heißt, sich zurechtfinden, meint die Wahl treffen zwischen mehreren Möglichkeiten und sie zusammenfügen zu können zum erwünschten Resultat eines verheißungsvollen Weges: Erfolg- oder gewinnversprechend. Die ursprüngliche Bedeutung kommt aber von Orient (ex oriente lux; aus dem Osten [kommt] das Licht) und bezieht sich auf die Anschauung, daß alle Kultur (wie die Sonne eben?) aus dem Osten kommt (Ausrichtung nach Osten z. B. der Kirchen, Chöre, Altäre).»6

Orientierungshilfen haben Christoph Rihs von klein an fasziniert. Früh hat Rihs das (Karten-)Lesen spannender empfunden als (Fern-)Sehen. Er zog eben lieber auf der Landkarte eine (gedankliche) Linie. Landkarten. Kartographie. Geometrie. Die Geometrie ist das Denkmodell des Menschen. «Und das Spannende daran», so Rihs, «ist ja, daß der Mensch ohne Denkmodell nicht leben kann.»7 So wuchsen anfänglich farbige Linien oder Objekte aus Holzleisten auf Fußböden oder Wänden. In Dufourstr. von 1981 ist es Kreide. Es sind Bewegungsabläufe. Rihs hat eine bestimmte Anzahl von Gängen festgehalten. So entstanden Bilder, «ähnlich denen eines Ballettänzers», wie Marie-Luise Syring feststellt. «Aber diese Arbeit hatte weder etwas mit den ritualisierten, abstrakten Bewegungsmustern eines Tänzers zu tun, noch ging es darum, den Raum zu ermessen, abzuschreiten oder irgend zu erfassen. [...] Welche Bedeutung die Aktionen des umhergehenden Besuchers hatten, ob sie durch Anziehung oder Abstoßung hervorgerufen waren, das wird an den Linien nicht ablesbar. Eine psychologisierende Lektüre bleibt also ausgeschlossen.»8 Christoph Rihs wollte den mechanischen Sehvorgang verdeutlichen, «dieses Abbild, das wir im Augapfel selbst tragen, als ein materielles Bild, das man wieder nach außen tragen kann, einen Zug mit Linien, mal Wollfäden mit Gummiseilen oder Kreidelinien auf dem Fußboden». Marie-Luise Syring legt in ihrer luziden Analyse jedoch — quasi wegweisend — nach: «[...] die Interaktion zwischen Objekt und Mensch. Die Dinge wirken über unsere Sinne hinaus und vornehmlich über das Auge auf den Geist, das heißt, die Erkenntnis und die Handlungsweise des Einzelnen (Maurice Merleau-Ponty hat dies auf bestechende Weise in L'Œil et l'Ésprit, 1964, beschrieben und u. a. damit den idealistischen Begriff der reinen Vernunft seiner Kritik unterzogen), genau wie unser Handeln auf die Dinge einwirkt.»9 Der französische Existentialist und Phänomenologe Merleau-Ponty — in einer Richtung zu denken mit Hedwig Conrad-Martius, Emmanuel Lévinas, Paul Ricœur und Edith Stein — bezeichnet den Leib als unser «Sein zur Welt». Er ist der Ort, in dem Sprache, Wahrnehmung, Handlung und Orientierung (sic!) auf andere wie auf die Welt stattfindet.10 «Ein menschlicher Körper ist vorhanden, wenn es zwischen Sehendem und Sichtbarem [...], zwischen einem Auge und dem anderen [...], wenn jenes Feuer um sich greift, das unaufhörlich brennen wird [...].»11

Christoph Rihs stellt den Betrachter, den Menschen ins Zentrum seines Zentrums, seines Globus, seines Weltbildes. Manchmal ist diese Welt wie im richtigen Leben sehr klein und komisch (mondo mio, 1984; der Globus oben links). Doch dann wieder verändert sie sich und ihr Bild. Es ergeben sich die unterschiedlichsten Perspektiven. Dann entstehen Weltbilder (1991).

Manchmal werden sie begraben: L'enterrement (1989). Oder sie sind Vorläufer für Vorbilder. Video. Ich sehe. In einem Videoband für ein Projekt der RWE laufen im historischen Zeitraffer ‹Kathedralen› ab: Pyramide, Tadsch Mahal, Minarett (ex oriente?), Pisa, Eiffelturm, Wasserturm, Fernsehturm — Kühlturm. Christoph Rihs' Weltbild auf dem 131 Meter hohen Kühlturm 1 (auch hier) des Gaskraftwerks Meppen im Emsland erhielt 1994 den einstimmigen Zuschlag der Jury unter dem Vorsitz von Ulrich Krempel. Für das RWE-Vorstandsmitglied Werner Hlubak lag die Faszination «vor allem» im Hinweis darauf, daß «die Welt Strom braucht, Elektrizität braucht». Christoph Rihs schmunzelte dazu seine An-Sicht: «[...] daß das Weltbild stark genug ist, etwas anderes hervorzurufen».12 Und siehe: Beispielsweise zwischen diesem Rihsschen Weltbild und der verniedlichenden Bemalung des südfranzösischen Kernkraftwerkes Cruas-Meysse (weitere Abbildung) an der Rhône liegen Welten. Nicht nur wegen des Unterschieds zwischen Gas und Atom. «Das eine ist der Schaffenstrieb des Menschen», so Rihs, «das andere ist, was man mit dem, was man getan hat, eigentlich angerichtet hat. Dies korrigierend zu untersuchen, das ist mein Arbeiten.»

«Wenn ich meinen Verstand benutze», stellt Bazon Brock fest, «um die Mechanismen aufzuklären, denen ich im Denken, im Sprechen unterliege, dann ist das ein reflexiver Akt. Und das ist in der Kunst immer der Fall gewesen, denken Sie beispielsweise an Maler wie Magritte, die ihre ganzen Themenœuvres nur aus der Aufklärung über diese reflexiven Mechanismen gewinnen. [...] Wir können Maschinen bauen, da gibt es ein bestimmtes Tun, die Folgewirkung dieses Tuns können wir aber nicht auf die gleiche Weise bewältigen wie das ursprüngliche Maschinenbauen oder das ursprüngliche Produzieren. Das sind Mechanismen, die die Kunst seit 500 Jahren erklärtermaßen zu ihren entscheidenden Fragestellungen gemacht hat, deswegen ergibt sich auf ganz natürliche Weise ein enger Zusammenhang zwischen künstlerischen und ästhetischen Problemstellungen einerseits und den ökologischen Debatten andererseits, soweit überhaupt eine Chance besteht, diese ökologischen Debatten ernstzunehmen.»13 «Jeder Künstler», meint Christoph Rihs, «durchläuft mit jeder Arbeit erneut die Stadien der Suche nach formalem und inhaltlichem Ausdruck.»14

«Die Welt ist angeeignet, funktionalisiert, entmythisiert und entromantisiert», schreibt André Lindhorst, sich auf Rihs' Arbeit beziehend.15 Entromantisiert? Eine Ruine ist uns geblieben: die schlaffe Hülle der Pandora. Und unser Sehnen flattert feixend um uns Ahnungslose herum. Doch woher soll der modern Aufklärungswillige es auch wissen, er, der auch der Information wegen in Kunstausstellungen geht? Der Katalog zu vier Jahrhunderten spanische Malerei erläutert das Stilleben, das Bodégon, das aus dem Keller, der ärmlichen Spelunke kommt, als ein «ein lustiges Cabinett mit allerlei Eßbarem, was im spanischen Klima wächst».16 Daß «die dargestellten Gegenstände der Stilleben [...] in symbolischem und theologischen Sinn auf den Menschen» verweisen, in «Bildern die Welt deuten oder an die Vergänglichkeit alles Irdischen», wird erst gar nicht (mehr?) erwähnt. Weder in einem der fünf Katalogaufsätze noch in einer der Bildbeschreibungen wird auf die religiöse, ergo politische Symbolik der Stilleben hingewiesen, etwa, «daß im Granatapfel die Einheit der Kirche mit ihrer großen Menge an Gläubigen aufgeht oder er auch als Zeichen der Auferstehung gilt.»17

Der Mensch von heute habe sich die Erde zum Gegenstand seiner globalen Projektionen gemacht, hält André Lindhorst fest. «Wie fragwürdig diese sind, darauf weist die Kunst von Christoph Rihs hin.»18 Mit diesem Satz beatmet Lindhorst — in Rihs — allerdings etwas, das er eine Sentenz zuvor beerdigt hatte: die Romantik. Der Künstler Jochen Gerz, alles andere als ein Priester des entkernten Gefühls, meinte: «In der Romantik kommt es zur Panne des Auftrags, eigentlich ein schöner Moment, unglaublich scharf und ohne jede Entschuldigung. Scharfgestellt wird auf die Kunst [...]. Die Kunst ohne Dauer, Publikum, Auftrag. [...] Das ist auch politisch. Das entspricht einem fast französischen Begriff des Politisierten [...].»19

Der Begriff der Romantik ist aus dem des Romans abgeleitet. Die Romantik leben war gleichbedeutend mit «La vie est un roman — das Leben ist ein Roman». So bedeutet Romantik auch, hier über Novalis: «Chaotisieren, verwirren, anarchisieren — das waren Begriffe und Praktiken, die die Frühromantiker durchaus positiv verwandten.»20 Und das liest sich so: «Billig stellt der Künstler die Thätigkeiten oben an, denn sein Wesen ist Thun und Hervorbringen mit Wissen und Willen, und seine Kunst ist, sein Werkzeug zu allem gebrauchen, die Welt auf seine Art nachbilden zu können, und darum wird das Princip seiner Welt Thätigkeit, und seine Welt seine Kunst. Auch hier wird die Natur in neuer Herrlichkeit sichtbar, und nur der gedankenlose Mensch wirft die unleserlichen, wunderlich gemischten Worte mit Verachtung weg.»21 Paul Eluard bemerkte, dem Romantiker sei der Inhalt eines Wasserglases ebenso von poetischer Bedeutung wie der Meeresgrund. «Ein Künstler kann käuflich sein», meint Christoph Rihs, «und sein Produkt, eine Materialisierung seiner ‹Forschung›, ist natürlich zu kaufen. Aber damit hat man nicht ‹die Kunst› gekauft; diese sprießt ähnlich wie eine Eselsdistel, weitverzweigt unterirdisch, um da aufzutauchen wo man sie vielleicht erwartet, aber oft dort, wo wir sie nicht erwarten.»22

Vernunft und Ästhetik
Vernunft ist kein abstraktes Gebilde, das man wenden kann, wie's das geldwerte Nützlichkeitsprinzip wünscht. Vernunft ist das Siècle des lumières, das Zeitalter der Erhellung (des Geistes). Sie ist gleichermaßen Déscartes' physikalisches wie philosophisches Licht. Aber sie ist ganz sicher auch ‹laisser-faire›: dem Sein der Eselsdistel den Weg lassen. Bei Douglas Adams wird der Mensch von der Labormaus an der langen Leine gehalten, im Universum.23 Rihs taumelt schmunzelnd durchs All, durch sein «Egoversum»: «Aus Realität und Vorspiegelung, einer Mischung aus beiden, setze ich meine Wirklichkeit zusammen.»24 Sein Maikäfer flieg!, entlehnt dem Kinderlied aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges, mag an dieses Gemetzel erinnern. Es kann jedoch genauso ein kindlicher Brummkreisel sein, der die Adamssche Bauflotte der Vogons stört, die den Auftrag hat, die Erde zu sprengen. Sie torkelt, sich den Plänen einer intergalaktische Einbahnstraße widersetzend, durchs All. «Ich finde es eine seltsame Formulierung, wenn ein Künstler sagt, wonach er sucht. Ich kann es nicht. Ganz bestimmte Sachen tauchen bei mir repetetiv auf. Aber formulieren, was das ist, kann ich nicht.» Auch die Wahl des Stoffes seiner Vor-Stellungen ist dabei völlig ohne Belang. «Ich wähle nicht ein Material, weil ich mich damit glücklich fühle, sondern ich gehe damit intuitiv um und frage später nach der Technik.»

Wir stehen am Ufer des schweizerischen Neuenburger Sees und sind verzaubert vom Schilf, das da aus dem Morgennebel auftaucht. Genau so flirrt es durch unser Wissen, dieser Seele des 18. und noch 19. Jahrhunderts, in unserer romantischen Verzücktheit, Entrücktheit. Gerade heute, im technoiden Zeitalter, wünschen wir uns so die Tage, die Natur, die uns aufhebt, die gegen den Raubbau an ihr hält. Ruhe. Stille. Beinahe so schön ist's, als ob Caspar David Friedrich es gemalt hätte. Gar des sehr frühen Romantikers Antoine Watteau Einschiffung nach Kythera von 1717 fährt uns in die Sinnlichkeit. Arkadien. Die Sonne durchdringt den Nebel, drängt durch, hebt ihn auf. Der Kopf wird entwattiert, entäußert sich. Geräusche. Ein Klingeln. Ist's das Läuten der schrecklichen Wirklichkeit? Fürwahr. Ein Trugbild war's. Aus dem Möchtegern-Welt-Bild wird eine rauhstelzige Realität. Das Schilf besteht aus Angelruten. An ihnen hängen Schellen, wie man sie (auch) aus der allemannischen Faßnacht in den Ohren hat: Fischbißanzeiger-Geläut, das zeigt, daß wir am Haken hängen. Es hallt uns in den Ohren, dieses homerische, schallende, nicht endenwollende Gelächter aus der Ilias und der Odyssee des Christoph Rihs: Schilf (2002).

«Ich kann nicht präzise sagen, warum ich Kunst mache. Ich versuche, Probleme zu lösen.» Christoph Rihs löst unsere Probleme ästhetisch. Doch Ästhetik bedeutet nicht mehr die ‹Lehre vom Schönen›, ist nicht mehr die apollinische Form ohne Tiefe, das klassische Ideal ihres Beschwörers Johann Joachim Winckelmann. Ästhetik meint seit der Aestetica aus den Jahren 1750/1758 des Alexander Gottlieb Baumgarten die Darstellung unterschiedlicher Auffassungen. «Dann heißt das», so Bazon Brock: «wir brauchen gar keine Antwort auf die Frage, das Interessante ist bereits die Frage selbst, nämlich: Wie kommen die unterschiedlichen Urteile angesichts gleicher Urteilsgegenstände und ziemlich gleicher Ausrüstung aller Menschen mit dem gleichen Urteilsapparat zustande, vor allem, was bedeuten diese unterschiedlichen Urteile?»25

So kann aus einem Schiff ein Fisch werden und der wieder zum Schiff oder zu einer anderen Erkenntnis (Schiff, 2000). In Erfurt hing dieses Hybridwesen als Ergebnis einer Rihsschen Bildgeburt. Rihs sieht sie jedoch weniger als Metapher denn als Wortspiel: «als ein technisches Produkt, das eigentlich Fähigkeiten des Fisches aufnimmt, sich in einem Medium zu bewegen, was nicht unseres ist». Das Medium war der Dom zu Erfurt. «Den sensiblen und sichtbaren Punkt des Übergangs zwischen Spätromanik und Gotik», schreibt Anne Maier, «hat Christoph Rihs als ‹Ankerplatz› für sein Luftschiff auserkoren. Der Chorhals mit zwei Nebengelassen stammt vom spätromanischen Bau und ist vermittelndes Glied zwischen dem älteren Querhaus und dem spätgotischen, stark überhöhten Chor. Durch diesen künstlerischen Eingriff wird die Bedeutung des Bindegliedes zwischen altem und neuem Bau, alter und neuer Kirche hervorgehoben. [...] Doch Christoph Rihs [...] will mehr als nur die Illusion des Fliegens erzeugen. Er greift mit seinem schwebenden Schiff in den Prozeß der Entkörperlichung und Vergeistigung des gotischen Kirchenbaus ein. Sein Skelett aus Edelstahl, verstärkt mit Spanten aus Aluminium, das von Bug und Heck ausgehend von einem kreisförmig laufenden drei Millimeter dicken Stahlseil umspannt wird, erscheint als objekthafter Kommentar einer Harmonie des Göttlichen. Bernard de Clairvaux entwickelte die geistigen Grundfesten zu der Lehre des gotischen Kathedralenbaus. So stellt sich der Chorhals als der Übergang vom sogenannten ‹ungeistigen›, prächtigen und selbstbewußten romanischen Stil hin zum durchgeistigten, wider jede Vorstellung von Schwerkraft löckende Gotik dar. Rihs befaßt sich seit längerer Zeit in seiner Arbeit mit der Überlegung, wie ein Sich-in-Gedanken-von-der-Erde-Wegbewegen visuell umgesetzt werden könnte.»26

Im Gegensatz zur Evokation seiner Weltbilder gehe es ihm hierbei jedoch nicht um den Künstler und dessen Modell oder gar den Traum vom Fliegen. Es gehe um die Erkenntnis, also zunächst um das Erkennen. ICHTHYS ist das griechische Wort für Fisch. Es diente den ersten Christen als Codewort des gegenseitigen Erkennens. Denn aus diesem Begriff ergibt sich eine Formel: ‹Jesus Christus, Sohn Gottes, Retter›. Daraus ergibt sich eine Reflexion, über die man zu unterschiedlichen Urteilen kommen kann. Bei Anne Maier ist die Definition so angelegt: «Fisch oder Schiff — Christoph Rihs läßt eine präzise Zuordnung offen, schafft Raum für die Phantasie der Kunst und den Reichtum der religiösen Gedanken. Er bestätigt Martin Bubers religiöse Erfahrung, als die einer Anderheit, die in den Zusammenhang des Lebens nicht eingebunden werden konnte. Das ‹Religiöse› hob einen heraus. Drüben war nun die gewohnte Existenz mit ihren Geschäften, hier aber waltete Entrückung, Erleuchtung, Verzückung, zeitlos, folgelos. Das eigene Dasein umschloß also ein Dies- und ein Jenseits, und es gab kein Band außer jeweils dem tatsächlichen Augenblick des Übergangs. [...] Wenn das Religion ist, so ist sie einfach alles, das schlichte gelebte Alles in seiner Möglichkeit der Zwiesprache.»27

«Kann sich im Vergleich von Kunst und Religion resp. Kirche aufgrund von Parallelen in der Orientierung eine Zusammenarbeit ergeben?» fragt Christoph Rihs. «Die Werte in der Kunst (zur Zeit!) werden von den Künstlern (und im Gefolge deren Interpreten) immer aufs neue geprägt, wogegen die Religion ihre in der ‹Schrift› (Veda, Pali, Bibel, Tanach, Koran, etc.) niedergelegten Werte als Orientierung anbietet. Glauben vs. Erkenntnis? Das eine reflektiert eine (moderne) Welt, in der jeder seine Werte selbst zusammenstellen kann, dies aber auch selbst tun muß; das andere spiegelt die (Tradition der) Menschengeschichte wieder: Die Herrschaft manchmal aus derselben Hand wie die Hilfestellung. Hier liegt meines Erachtens eine hohe Mauer, die in Anbetracht der Arbeitsweise heutiger Künstler ein Arm in Arm zu gehen ausschließt.»28 Hier war der ‹bespielte› Raum eben eine Kirche, ein Dom zudem, der weit hinaufgreift in ein Universum, das an diesem Ort jenem Herrn zugeordnet wird, dem eine Religion gewidmet wurde. Anne Maier irrt also keineswegs. Lediglich ihre Perspektive in die Endlosigkeit ist eine andere.

In das andere Endlose greift Rihs gerne. Allerdings eher weniger auf der Suche nach ‹ihm›. Rihs grüßt mit Hello Halley Maikäfer flieg! schon eher ironisch den hellsten unter den Kometen, der uns 1986 das letzte Mal erhellt und Zeitungen und Fernsehen und damit uns alle gewaltig erleuchtet hat. Und so, wie bei Rihs Hello Halley an eine Bastelwerkstatt erinnert, assoziert die lädierte Giotto, die Raumsonde, die eigens für die Beobachtung von (Hello) Halley ins All geschossen wurde. Novalis erklärt diesen Denkvorgang so: «Wenn der Denker [...] mit Recht als Künstler den thätigen Weg betritt, und durch eine geschickte Anwendung seiner geistigen Bewegungen das Weltall auf eine einfache, räthselhaft scheinende Figur zu reduciren sucht ...»29

Der Erden Ball
Christoph Rihs ist multiplex aufgewachsen. Sein osservatorio romano (1985) würde er wieder schmunzelnd Wortspiel nennen. Der Osservatore Romano des Heiligen Stuhls ist der journalistische geistliche Beobachter einer weltlichen Welt. Der osservatorio romano ist die astronomische Beobachtungsstation des poetisch aufklärenden Christoph Rihs. In einer Parallele — Seh-Raum von 1983, der auch Egoversum tituliert wurde — kratzt Marie-Luise Syring mit dem Federkiel an der dann fröhlich blutenden Wunde: «Ein solcher Kommentar [...] bedeutet mehr als die bloße Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Sprache der Fiktion. Er bildet sozusagen das Instrumentarium einer Innenschau und wird gleichzeitig zum Sinnbild einer nach innen und außen hin offenen Welt-Anschauung im doppelten Sinn des Wortes.»30

So trifft das Rihssche Egoversum auch auf das von Johannes Brahms. Im thüringischen Meiningen, also nicht weit vom Dach, unter dem Goethe und Schiller (Die Wahrheit ist nur mit List zu verbreiten) gemeinsam archiviert sind, durfte Brahms durch die Vermittlung des befreundeten Dirigenten Hans von Bülow eine enge Beziehung zum dortigen kleinen Fürstentum herstellen und dessen Orchester bespielen. Christoph Rihs hat das via Bols (1999) mit Meiningen getan. Auch hier hat Rihs zunächst einmal wieder in die Sterne gegriffen. Modell für dieses Modell stand der Erdapfel, den der Kosmograph Martin Behaim 1492 fertiggestellt hat, der erste erhaltene Globus. «bols sind aufgelöste Darstellungen von Welt, den Blick auf die Natur käfigartig fassend. Wenn von einer Globendarstellung nur die Geometrie übrigbleibt, stellt dies für mich die Reduktion des Konzeptes ‹Weltabbild› auf den Ursprung und Angelpunkt jedes Denk-Modells dar.»31

Die etwas älteren kennen Bols. Bols-Blau, der Aperitif, der ein so seltsames Sirren im Kopf hervorrief. Ähnlich der Ver-Ball-Hornung von Balls: Balls of Brahms. Der Dadaist Hugo Ball böte sich ebenfalls an, in dessen Vorwort zum Buch Byzantinisches Christentum Waldemar Gurian darauf hinweist, daß im modernen Abendlande die «symbolische Betrachtung der Geschichte fast ganz vergessen worden ist».32 Eine Annäherung an den Globus legt der französische Ball nahe, der Ballon heißt. Womit wir beim schwebenden oder hüpfenden Gebilde des Rainer Maria Rilke wären:

«Du Runder, der das Warme aus zwei Händen
im Fliegen, oben, fortgibt, sorglos wie
sein Eigenes; was in den Gegenständen
nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie,
zu wenig Ding und doch Ding genug,
um nicht aus allem draußen Aufgereihten
unsichtbar plötzlich in uns zu entgleiten:
noch unentschlossener: der, wenn er steigt,
als hätte er ihn mit aufgehoben,
den Wurf entführt und freiläßt —, und sich neigt
und einhält und den Spielenden von oben
auf einmal eine neue Stelle zeigt,
sie ordnend wie zu einer Tanzfigur,
um dann, erwartet und erwünscht von allen,
rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur,
dem Becher hoher Hände zuzufallen.»
33

Vom «fortwährenden Vergeuden aller wandelbaren Werte»34, erzählt Rainer Maria Rilke noch: in der endlosen Wißbegierigkeit nie aufhören zu spielen.

Es gibt ein schweizerisches Spezifikum, der einen spezifischen schweizerischen Humor hervorgebracht hat. Ersteres ist der unbändige Ordnungswille. Und in ihm und mit ihm wird gerne kaschiert. Sicher hat Milan Kundera nicht die Schweiz gemeint, aber er hat unumstößlich gefolgert: «... daß das ästhetische Ideal des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existierte sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch35

Die Modernität, schrieb der Sur-Naturalist36 Charles Baudelaire 1863, ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige. Oder: «Das Schöne ist immer bizarr.»37

Anmerkungen
1 Bazon Brock, in: Interview mit dem Autor zum Thema Ökologie und Ästhetik für den Westdeutschen Rundfunk, Köln 1982
2 Lucius Grisebach: Der Maler Werner Heldt, in: W. H., hrsg. v. Lucius Grisebach, Kat. Kunsthalle Nürnberg (u. a.), Nürnberg 1990, S. 66
3 Bertrand Theubet, in: Schweizer Abgründe, Dokumentation, arte, 21.08.02, 20.45 h
4 Kurt Tucholsky: Es gibt keinen Neuschnee, in: Gesammelte Werke 1925 — 1926, Rowohlt, Reinbek 1993 (181 Aufl.), Bd. 9, S. 74f.
5 Brockhaus PC-Bibliothek 3.0, 2001
6 Rihs in einem eMail an den Autor am 27.9.2001
7 Christoph Rihs im Gespräch mit dem Autor im französischen Bourguignon (Bourgogne) am 15. Mai 2001; soweit nicht anders gekennzeichnet, entstammen die Zitate diesem Gespräch
8 Marie-Luise Syring: Eine Anatomie des Sehens, in: Monde, Ausst.-Kat. (deutsch und französisch) Faux-Mouvement, La Cour d'Or, Musées de Metz, 1989, S. 8ff.
9 Marit Rullmann und Werner Schlegel: Leib- statt Vernunftphilosophie, Frankfurt am Main 2000, S. 101
10 Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist (L'Œil et l'Ésprit), Hamburg 1984, S. 17
11 ibd.
12 Videoband der RWE, 1994
13 Bazon Brock, ibd.
14 Rihs-eMail, 27.9.2001
15 André Lindhorst, in: Kunst und Weltbild, in Ausst.-Kat. (deutsch und englisch) C. R., Galerie am Fischmarkt, Erfurt 1998, S. 20
16 Von Greco bis Goya. Vier Jahrhunderte spanische Malerei, Ausst.-Kat. Haus der Kunst München und Künstlerhaus Wien 1982
17 Detlef Bluemler und Hellmuth Zwecker, in: Deutsche Volkszeitung Nr. 17, 22. April 1982, Kultur, S. 14
18 André Lindhorst, ibd., S. 21
19 Jochen Gerz in einem Gespräch mit dem Autor am 6. Mai 1988 in Düsseldorf
20 Jochen Hörisch, in: Poetisches Neuland. Anmerkungen zu Novalis, in: Novalis, Gedichte. Die Lehrlinge zu Sais, Frankfurt am Main 1987, S. 164
21 Novalis: Die Lehrlinge zu Sais, Die Natur, in: Gedichte, ibd., S. 131f.
22 Rihs-eMail, 27.9.2001
23 Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis, München 1979
24 Christoph Rihs, in: Monde, ibd., S. 29
25 Bazon Brock, ibd.
26 Anne Maier, in: Klangschatten. Installationen aktueller Kunst in fünf Erfurter Kirchen, Deutsche Ges. f. christliche Kunst, München 2000, S. 42
27 ibd.
28 Rihs-Email, 27.9.2001
29 Novalis: Die Lehrlinge zu Sais, Die Natur, ibd., S. 131f.
30 Marie-Luise Syring, ibd., S. 11
31 Christoph Rihs in einer eMail vom 26. August 2002 an den Autor
32 Zitiert nach: Hugo Ball (1886 — 1986). Leben und Werk, Pirmasens/München/Zürich 1986, S. 209
33 Rainer Maria Rilke: Der Ball, aus: Die Gedichte, Der neuen Gedichte anderer Teil (1908), Frankfurt am Main 1993, Seite 585f.
34 Rainer Maria Rilke: Über Kunst II, in: Von Kunst-Dingen. Kritische Schriften, Leipzig und Weimar 1981/1990, S. 45
35 Milan Kundera: Die unendliche Leichtigkeit des Seins, München 1984, S. 237
36 Daraus entstand die Wortschöpfung Apollinaires: Surrealisme; siehe: Henry Schumann im Nachwort zu: Charles Baudelaire, Der Künstler und das Moderne Leben, Leipzig 1990, S. 407
37 Charles Baudelaire, Gesammelte Schriften, Werke, Band 4, Leipzig 1981, S. 286


Abbildungen:
Resonanz, 1999
Installation, Aluminium
ø circa 750, Höhe circa 350 cm
ø circa 370, Höhe circa 170 cm
Staatliche Kunsthalle Karslruhe, Forum Rotunde

mondo mio, 1984
Veränderter Globus
Höhe: 25 cm
Privatbesitz

Schilf, 2002
Stipp(angel)ruten, Schellen
Höhe: 400 – 600, Breite: 900, Länge: 900 cm
St. Blaise, Neuenburger See/Schweiz
Photographie: Sandro Vannini, I-Viterbo

Deutsche Scholle, 2002
Sperrholz
Höhe: 80, Breite 470, Länge: 1.100 cm
Installation in der Barfüßer-Kirche in Erfurt
(der «Fisch» wurde unter der Decke installiert)


Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 60. 4. Quartal, Heft 31, München 2002

© Für den Text: Detlef Bluemler und Zeitverlag (ehemals WB-Verlag);
für die Rihs-Abbildungen: © Christoph Rihs

Der Text ist unter dem Titel La raison poétique auch in französischer Sprache erschienen.


Siehe auch: Family Portraits in Multiple Layers: The Korea Times

 
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