Gestaltendes Kalkül

Im Gegensatz zur wilden, erruptiven, oft schreiend plakativen Malerei der zurückliegenden Jahre, in dem das zeitgeistig interpretatorische Priorität hatte, ist Annekathrin Norrmanns Thema die Malerei selbst. Auf eine positive Weise besetzt sie damit den Begriff ‹konservativ›, bewahrt sie doch — im Sinne von conservare — die Auseinandersetzung mit Farbe und Form, die in hohem Maße mit dem Beginn der Moderne Eingang fand. Sowohl ihre Gemälde als auch ihre Collagen rufen Robert Delaunays «Gesetze der Farbe» von 1912 aus der Erinnerung ab: «Die zeitgenössische [...] Kunst ist durch und durch eine formalklare Darstellung, konstruiert nach den Gesetzen des Lichts oder besser der Farbe, das heißt, sie ist rein-visuell mit Hilfe eines neuen Handwerks, ähnlich wie es die große italienische Malerei mit ihrem alten Handwerk war ...» Ihre Kunst wurzelt im Geistigen, durchaus im Sinne Kandinskys (also als Weiterführung der Moderne), indem sie anstrebt, in der Komposition möge sich «gestaltendes Kalkül und Emotion die Waage halten».

Wenn Annekathrin Norrmann davon spricht, daß ihre Arbeiten «trotz ihrer offensichtlichen Reduziertheit nicht rein verstandesbetont» seien, bezieht sich das sicherlich nicht auf eine generelle Ablehnung von Vernunft, sondern auf einen reinen Formalismus, der in seiner ‹akademischen› Ausprägung dem Bild die ‹Seele› nimmt. Sie übersetzt ihre sinnlichen Eingebungen unter Zuhilfenahme von «Erfahrung, Gefühl, Meditation und Reflexion» für den Betrachter. Der möge aus dem Instrument Gemälde, entstanden aus den Grundstoffen Farbe und Form, einen individuellen Klang heraushören.

In seinen Erläuterungen zum Begriff ‹Komposition› — und bei den Gemälden von Annekathrin Norrmann handelt es sich um Kompositionen — fragte Kandinsky, ob menschliche Figuren dafür unbedingt notwendig seien. Fast achtzig Jahre danach erfuhr Annekathrin Norrmann in ihrer Malerei die Antwort: Da es ihr nicht um den Menschen in seinem, wie sie sagt, «psychischen oder sozialen Zustand» geht, sondern um ihn als «Figur in seinem Raumgefüge», verzichtete sie auf die Figuration, um die «Klärung von Farb-Form-Beziehung zu erleichtern».

Im Zusammenklang der Anordnungen von Farben und Formen in den Gemälden von Annekathrin Norrmann stellen sich bisweilen naturhafte Assoziationen ein. Den Natureindruck strebt sie jedoch expressis verbis nicht an (wenn sie auch dem Betrachter solche ‹genuß›-ähnlichen Ausflüge nicht verweigern will). Denn sie als Künstlerin will (mit Goethe) «zur Welt als Ganzes sprechen. Dieses Ganze findet (sie) aber nicht in der Natur, sondern es ist die Frucht (ihres) eigenen Geistes.» Und dieser eigene Geist ist Motivation oder auch Richtschnur für einen Prozeß, dem allein die Künstlerin unterliegt. Der Genuß oder auch das Genüßliche hat dabei außen vor zu bleiben. Wer diese Gemälde romantizistisch ‹genießt›, sie also dem Gesamtgefüge der Kunst entreißt, das wiederum Bestandteil des Lebens ist, muß sich von Adorno sagen lassen, er konsumiere und sei deshalb ein Banause.

Innerhalb einer Welt, die nur noch aus Farbtupfern (gerade in der Kunst) zu bestehen scheint oder aber ästhetizistische Verballhornungen von Kunst fördert, kommen die Arbeiten von Annekathrin Norrmann einer Revitalisierung der Moderne gleich. Ihre Raum-, Farb- und Formsetzungen verlieren sich nicht in Huldigungen an Rezitativ und Arie, sondern stellen dem Rezipienten ein Gefüge vor, das sich aus der Gesamtsumme sinnlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten ergibt. In ihrer Reduktion auf das Wesentliche (wobei sie jedoch bereits in den Details Farbe, Form und Raum kompositionell vorgeht) bringt sie in sich und dem Betrachter grundsätzliche Fragen nach ästhetischen Ordnungen neu zum Schwingen.


Ausstellungskatalog Raumbilder. Bildräume, Elisabeth Heindl und Annekathrin Norrmann in der Galerie der KV Dachau, 19. Oktober bis 5. November 1989
 
Do, 22.10.2009 |  link | (1083) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Bildende Kunst






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