Die Identifizierung der Form mit Substanz

Zur Arbeit von Rudolf Wachter — eine Einführung*


Als ich, sehr geehrte Damen und Herren, mir vor etwa drei Wochen gemeinsam mit Rudolf Wachter dessen Ausstellung im Ulmer Stadthaus anschaute, stieß ich auf eine Überraschung. Das hatte ich, der ich seine Arbeit schon recht lange kenne, zuvor noch nie gesehen: Zeichnungen, genauer: Akte. Nach einer Weile des Betrachtens dieser ‹Akte› fiel mir spontan eine Charakterisierung dafür ein: Maserung. Und Rudolf Wachter nickte.

Ein paar Jahre ist es her, daß er alles andere als nickte, sondern sich vielmehr heftig wehrte, als ich ihm bedeutete, eigentlich sei er ein Romantiker; zumindest, er befände sich in der besten Tradition der Romantik. Da war Erklärungsbedarf notwendig. Denn meine derartige Bewertung sollte alles andere als den Zusammenhang herstellen zwischen seiner Arbeit und dem, was heute meistens dem inhaltlichen Irrtum unterworfen ist: der eben auch so genannten Romantik des abendlichen Herbstspaziergängers, der die untergehende, zwischen den Bäumen durchblitzende Sonne genießt — oder einfach nur der Romantik des Händchenhaltens bei Kerzenlicht. Damals, bei diesem langen Gespräch, waren es andere Worte, die ich gebrauchte, um mit diesem Mißverständnis auszuräumen.

Heute will ich — bei meiner Charakterisierung ‹romantisch› bleibend — darauf verweisen, daß das Wesentliche für die Romantik nicht der Inhalt ist, sondern die Form — und das mit einem dialektischen Zitat von Herbert Read untermauern: «Man könnte rasch erwidern, daß diese Unterscheidung unreal sei: die Form existiere nicht an und für sich, um sich mit irgendeiner seelischen Substanz im Schmelzzustand zu füllen — vielmehr sei sie die Kristallisierung eben dieser Substanz, sobald sie im Geiste des Dichters [hier die des Bildhauers] erkaltet. Aber wer so denkt», meint Herbert Read, «denkt bereits romantisch. Die Identifizierung von Form mit Substanz — das gerade ist die romantische Revolution.»

Diese «romantische Revolution» ist mehr als das, was Irving Babbitt ihr unterstellte und wie sie heute oftmals und wieder bezeichnet wird, nämlich «krude Gefühlsseligkeit». Künstlerische Fähigkeit ist es, um mit Schelling zu sprechen, «nicht kalte Begriffe sich anzueignen — leblose technische Regeln —, sondern lebendige und lebensschaffende Ideen, welche ihre Evidenz in sich tragen, die Gewißheit, daß sie wesentlich eins sind mit der Natur ...»

Wer nun Rudolf Wachters Identifikation der durch die Natur vorgegebenen Form mit Substanz partout in ein negativ-zeitgeistiges, Geschichte bzw. Kunstgeschichte permanent ignorierendes ‹Denk›-Repertoire überführen möchte, der soll ihn eben, wie so oft geschehen, weiterhin als ‹ökologischen› Künstler bezeichnen. Von Sachverstand zeugt es jedenfalls nicht. Vielmehr ist es so, wie Hans Gercke in einem Katalogtext zur Arbeit von Rudolf Wachter geschrieben hat: «Wer Wachters Arbeiten genauer betrachtet, wird [...] feststellen, daß sie alles andere als expressive Illustrationen oder anklagende Hinweise auf die Verletzungen, die der Mensch der Natur und damit sich selbst und seinesgleichen zufügt. Es geht vielmehr», so Gercke weiter, «um eine Balance zwischen dem Gewachsenen und dem Gemachten, zwischen Vorhandenem und vom Menschen verantwortender Veränderung, um eine Art Dialog also, die aktuell und notwendig ist ...»

Des Künstlers Rudolf Wachter Material ist das Holz — so wie der andere Künstler mit anderen Materialien arbeitet — etwa Metall oder Stein —; auch damit hat er früher gearbeitet.
Mit dem Holz ist er sozusagen zu seinen Wurzeln zurückgekehrt — er hat bei seinem Vater eine Schreinerlehre gemacht. Das ist aber auch das einzig scheinbar Mythische daran. Das, was er früher mit dem Holz gemacht hat, hat mit den Arbeitsvorgängen von heute nichts, aber auch gar nichts mehr gemein. Im Gegenteil, vielleicht mit Picasso gesagt, der einmal, angesichts von Kinderzeichnungen und ihren abstrahierenden Linienführungen, geäußert hat: Und dazu habe ich dreißig Jahre gebraucht!

Rudolf Wachter arbeitet nicht die Natur nach, er arbeitet mit ihr. Und — das ist wesentlich — sein Repertoire entstammt der Moderne und deren (ganzheitlichen) Ausformungen! Er füllt, wie eingangs gesagt, die Form mit Inhalt, also mit seinen künstlerischen Überlegungen — er beatmet sie mit seinen Ideen. Wer nicht genau hinschaut oder nur Photographien von seinen Skulpturen sieht — mir ging das vor Jahren so —, meint aneinandergefügte kubische Teile zu erkennen. Wir wissen, daß dem nicht so ist. Rudolf Wachter arbeitet — immer mit der Kettensäge — sozusagen die Konstruktion der Natur, die Gewachsenheit eines Stammes, einer Astgabelung nach und läßt so, vermittels seiner Vorberechnung, jene originäre Kunst entstehen, die ihn seit Jahren zum ewig jungen ‹Geheimtip› macht.

Nach vielen Skulpturen — nach Eduard Trier nimmt der Bildhauer vom Material weg und schafft so die ‹Skulptur›, während der Plastiker mit ihm aufbaut und so die ‹Plastik› erarbeitet —, nach all den Jahren ist Rudolf Wachter wieder zu einer Arbeit zurückgekehrt, die wieder auf eine dem Konstruktivistischen entlehnten Formensprache zurückführt: die hier zu sehende Skulptur ‹Tisch für ein Kunstgespräch – oder die Kunst, aneinander vorbeizureden›. Sie ist nach den selben, zuvor von mir angesprochenen Kriterien angefertigt worden. (Auskünfte über Einzelheiten erteilt Ihnen Rudolf Wachter sicherlich gerne im Anschluß.) Dieser Titel, vor allem der Untertitel, eben ‹oder die Kunst, aneinander vorbeizureden›, hat sicherlich seinen Ursprung im Werdegang Rudolf Wachters, also und eben auch in der eben immer mehr zunehmenden ‹Bereitschaft› der Menschen, an dem, was ihnen gezeigt wird, vorbeizuschauen — vorbeizureden. Dieser für Rudolf Wachter ungewohnt literarische Titel klingt für mich persönlich wie ein tiefer, knorziger, allgäuischer Seufzer, den ich mit einem Bild von Herbert Read unterstreichen bzw. bestätigen möchte:

Petrarca war — neben seiner Dichtung — bekannt «dafür, daß er der erste war, der einen Berg bestieg, um die Aussicht zu genießen. aber als er den Gipfel des Mont Ventoux erklommen hatte, erinnerte er sich an die Stelle aus den Konfessionen des heiligen Augustin — an eine Stelle, die sagt, daß ‹Menschen weit gehen, um die Höhe des Gebirges, die stolzen Wogen der See, die langen Flußläufe, die weite Fläche des Ozeans und die Kreisbahn der Sterne zu bewundern›; und Augustin läßt sich aus über die Wunder des Gedächtnisses und der Vorstellungskraft. Er erörtert sogar die allein dem Menschen eigene Fähigkeit des Denkens, die er definiert als die Zusammenziehung diffuser und erdrückter Erinnerungen; und es scheint nahezuliegen, daß Descartes an diese Stelle dachte, als er seinen berühmten Grundsatz formulierte.» Und der lautete bekanntlich:

Ich denke, also bin ich.


*Einführung Rudolf Wachter, 1. September 1994, 19.00 Uhr, marquardt-ausstellungen, München
Innerhalb der Rede gab es teilweise Abweichungen vom Manuskript.

Ivo Kranzfelder hat sich ausführlichere Gedanken über die Arbeit von Rudolf Wachter gemacht: Kunst und Naturerkenntnis

Photographie: Andreas Präfcke (vergrößern), GFDL and Creative Commons CC-BY 3.0

 
Mo, 21.12.2009 |  link | (2409) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Bildende Kunst






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